»Das Wissen über Zwangsarbeit in Berlin-Neukölln könnte wesentlich weiter sein«, ärgert sich Bernhard Bremberger. Der Historiker ist eine Kapazität auf diesem Forschungsgebiet. »Wegen der Blockade des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes, der keine Kopien für eine statistische Auswertung zur Verfügung stellt, wird die weitere Forschung auf Jahre oder gar Jahrzehnte ruhen müssen«, fürchtet der frühere Mitarbeiter der Berliner Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle. Im Auftrag des Bezirksamtes Neukölln forscht Bremberger derzeit unter anderem über verschiedene Zwangsarbeitslager in Neukölln, den Gaswagenhersteller Gaubschat sowie den Transport von schwerstkranken Zwangsarbeitern in ein Sterbelager. Der Wissenschaftler muss dafür Unterlagen auswerten, die sich beim Internationalen Suchdienst (ITS) befinden.
kopien Der jedoch legt Bremberger, der auch für die Universität Potsdam tätig ist, Steine in den Weg – einen nach dem anderen. So hatte der Lokalhistoriker bei einem Aufenthalt in Bad Arolsen, dem Sitz des ITS, Kopien bestellt, um sie in Berlin auszuwerten. ITS-Direktor Jean-Luc Blondel wies ihn auf die Kosten hin. Als Bremberger seine Zahlungsbereitschaft signalisierte, hieß es plötzlich, er habe ganze Aktenbestände bestellt, deren Kopie durch die Benutzerordnung ausgeschlossen sei. Durch solche Restriktionen solle verhindert werden, dass sich Forscher ein privates Konkurrenzarchiv anlegen.
konkurrenz Doch andere Institutionen verfügen längst über Duplikate der Arolsener Bestände: Beim Washingtoner Holocaust-Museum und in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem etwa sind Kopien der Dokumente problemlos zu bekommen. Das ist gut für amerikanische und israelische Forscher. Bremberger hat davon nichts, er hat kein Budget für Aufenthalte in Washington oder Jerusalem. Auch ein mehrwöchiger Aufenthalt in Bad Arolsen ist mit einem normalen wissenschaftlichen Etat kaum zu realisieren.
Blondel geht aber noch weiter. Er zweifelt die Wissenschaftlichkeit der Forschungsprojekte des Berliners an. Dabei kritisieren auch andere Historiker die Praxis in Arolsen. »Der ITS nimmt für sich in Anspruch, nach Willkür Entscheidungen über den dauerhaften Ausschluss von Benutzern zu treffen«, schreibt etwa Klaus Graf von der Universität Freiburg im Online-Fachforum »Archivalia« über die Benutzerordnung des ITS.
Als sich Bremberger beim Internationalen Aufsichtsgremium des ITS beschweren wollte, verweigerte ihm das in Deutschland zuständige Auswärtige Amt den Kontakt zu dessen Mitgliedern. Die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke richtete daraufhin eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung, die den ITS mit seinen etwa 300 Mitarbeitern vollständig finanziert – 2010 mit knapp 15 Millionen Euro an Steuergeldern aus dem Etat des Bundesinnenministeriums.
Doch auch das Berliner Außenamt machte in seiner Antwort weder Angaben über die anderen Mitglieder des Ausschusses, noch hielt es das Gremium für die zuständige Beschwerdeinstanz. Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke kritisierte gegenüber der Jüdischen Allgemeinen, dass es bei derart »allgemeinen Antworten« weiter »offene Fragen und Klärungsbedarf« gebe.
kontrolle Damit diese Fragen nicht ihren Weg in die Öffentlichkeit finden, wurde ITS-Chef Blondel im Juli dieses Jahres aktiv und reiste nach Berlin. Doch nicht etwa, um sich mit Bernhard Bremberger zusammenzusetzen und pragmatische Lösungen zu finden. Vielmehr besuchte der Schweizer Ulla Jelpke und versuchte, zu beschwichtigen. Die langjährige Bundestagsabgeordnete konnte er aber nicht überzeugen. Sie fordert jetzt, den »Druck auf die zuständigen Ministerien« zu erhöhen, damit diese ihre »Kontrollfunktion ausüben«.
Blondel hingegen stellte im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen Bremberger erneut als Einzelfall dar und verwies darüber hinaus auf eine Tagung von Archivaren der mit dem Internationalen Suchdienst kooperierenden Institutionen im kommenden Oktober. An dem Treffen werden auch Vertreter renommierter Einrichtungen wie des Washingtoner Holocaust-Museums, Yad Vashems oder der Staatsarchive Frankreichs und Belgiens teilnehmen. Bei dieser Gelegenheit werde man, so Blondel, »auf Beschluss des Internationalen Ausschusses noch einmal die Terminologie und die Praxis der Kopienabgabe erörtern«.
Der Internationale Suchdienst – englisch: International Tracing Service (ITS) – ist eine vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) betriebene Einrichtung mit Sitz im hessischen Bad Arolsen. Er entstand aus einem im Zweiten Weltkrieg gegründeten Suchbüro der Alliierten und ist heute mit über 50 Millionen Dokumenten eine der weltweit größten Sammlungen über zivile Opfer des Nationalsozialismus. Rechtlich hat der ITS den Status einer internationalen Institution unter Aufsicht von elf Staaten, finanziert wird er zu 100 Prozent von der deutschen Bundesregierung. Bis vor vier Jahren war das Archiv des ITS für die Forschung im Allgemeinen nicht zugänglich. Lothar Eberhardt von der Interessengemeinschaft der ehemaligen Zwangsarbeiter in Berlin beschrieb den ITS 2006 als »ewiges Datengrab«. 2007 wurde das Archiv für historische Forschungen offiziell geöffnet.