Yishay Garbasz ist offenbar angekommen. Die Reise dauerte lange genug. 15 Jahre vielleicht. Und sie führte die Fotografin einmal um die ganze Welt: Von ihrer Heimat Israel in die USA, wo sie mit Mitte 20 darauf hoffte, endlich richtig schreiben und lesen zu lernen. Dann nach Großbritannien, wo sie sich scheiden ließ und auch sonst alles verlor. Später zurück nach Amerika, in ein Zen-Kloster inmitten der Catskill Mountains. Ein paar Jahre darauf quer durch Mitteleuropa, auf den Spuren ihrer Mutter, einer Holocaust-Überlebenden. Schließlich nach Taiwan und Japan, wo sie längst ein gefeierter Star ist. Zwischendurch, in einer thailändischen Klinik, wurde aus Yishay Garbasz, dem ehemaligen israelischen Offizier Yishay Garbasz, die Frau, die an diesem Berliner Januarabend mit sanfter Stimme und in hochhackigen schwarzen Stiefeln Kekse reicht.
»Ich möchte mir hier ein Zuhause schaffen«, sagt die 39-Jährige, während sie in ihrer Altbauwohnung in Berlin-Mitte noch ein wenig Tee nachschenkt. Garbasz’ Apartment besteht im Wesentlichen aus einem großen Raum mit hohen Fenstern, einem Crosstrainer und einer langen Pinnwand, an der Bilder und Entwürfe für die kommende Biennale im südkoreanischen Busan befestigt sind. Die Fotografin ist eine rührende Gastgeberin, die geduldig und ausführlich ihre Geschichte erzählt, ab und zu unterbrochen von einem mädchenhaften Lachen. Dabei kann sie auf eigentümlich charmante Weise Unerhörtes sagen. Zum Beispiel: »Das Berliner Holocaust-Mahnmal sieht aus wie der perfekte Platz, ein Bier zu trinken.« Oder: »In Auschwitz führen sie die Gruppen schnell herum und geben ihnen zu verstehen: Hier musst du traurig sein! Aber Gefühle sind etwas sehr Persönliches. Und sie brauchen Zeit.«
Bauchgefühl Die Erinnerung an die Schoa – in Garbasz’ Augen ist sie verkitscht und zur Routine erstarrt. »Viele Künstler, die versuchen, den Holocaust abzubilden, wollen unbedingt, dass der Betrachter etwas fühlt. Aber so funktioniert das nun mal nicht.« Ihr hochgelobter Bildband In My Mother’s Footsteps, der 2009 bei Hatje Cantz erschien, ist ein Gegenentwurf, auch wenn das so nicht geplant war. Garbasz richtet sich beim Fotografieren strikt nach ihrem Bauchgefühl, das Buch entstand, weil sie sich selbst und ihre Probleme besser verstehen wollte. »Es ist nicht so, dass du ein Thema wählst. Das Thema wählt dich«, sagt sie, springt von ihrem Sofa auf und zeigt die zwei großen Pappkartons, in denen Tausende Bilder lagern, die sie mit ihrer Großformatkamera für In My Mother’s Footsteps aufgenommen hat.
Es ist vergleichsweise wenig Material, dafür, dass sie ein ganzes Jahr unterwegs war. Von August 2004 bis August 2005 konnte Garbasz dank eines Stipendiums in die Kindheit und Jugend ihrer Mutter Salla zurückreisen, die 1929 in Deutschland geboren wurde. Grundlage war Sallas Lebensbericht, den sie auf Wunsch ihres sterbenden Mannes 1996 mit einer Schreibmaschi- ne niedergeschrieben hatte. Er besteht aus Dutzenden DIN-A4-Blättern.
Die erste Station von Yishay Garbasz’ Reise war Berlin, wo die Familie bis zur Machtübernahme der Nazis gelebt hatte. Die Fotografin quartierte sich einige Wochen in einer Studenten-WG in Friedrichshain ein und fuhr immer wieder zur Linienstraße in Mitte, um dort die zwei Wohnun- gen zu fotografieren, in denen die Mutter aufgewachsen war. In einer von ihnen lebt heute eine ältere Dame, die sich mit Puppen und Porzellanfiguren eingerichtet hat. Wer das Foto ihres Wohnzimmers sieht, stellt sich jede Menge Fragen: Wie sah es hier 1933 aus? Was stand in den Schränken der Familie? Was hat sie zurücklassen müssen? Das Grauen der Schoa wird auf Garbasz’ Fotografien durch das sichtbar, was man nicht sehen kann.
Sprachlos So wie ihre Verwandten 1933 vor den Nazis nach Holland flohen, fuhr auch Garbasz weiter nach Groningen und dann ins Durchgangslager Westerbork, nach Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt, um schließlich den Weg zu beschreiten, den ihre Mutter einst nach Bergen-Belsen nehmen musste, wo sie 1945 von der britischen Armee gerettet wurde. Die Bilder von der Route des Todesmarschs sind besonders verstörend. Auf den ersten Blick wirken sie unschuldig, zeigen verwunschene Landschaften und hübsche Städtchen. Umso erschütterter blickt der Betrachter ein zweites Mal auf sie, wenn er Sallas knappe Erinnerungen links daneben gelesen hat. Erinnerungen, über die Yishay Garbasz’ Mutter nie sprach.
»Der Holocaust war tabu«, sagt die Fotografin. Dabei hatten die Nazis auch die Familie des Vaters beinahe komplett ausgelöscht. Jack Garbasz, in Polen geboren, hatte nur überlebt, weil er als Kind ein australisches Visum bekam – und fühlte sich deshalb später schuldig. Also schwieg auch der Vater, und Yishay sowie ihre zwei Brüder fragen nicht nach – »ein geheimer Vertrag zwischen uns«. Doch der Holocaust war, gerade in seiner Abwesenheit, immer präsent, so wie auf vielen von Garbasz’ Bildern. Die Fotografin spricht von »posttraumatic memory« und davon, dass die Eltern ihre seelischen Wunden an die Kinder weitergegeben hätten. Unbewusst, ohne es zu wollen.
Therapie Nicht, dass diese Diagnose Garbasz’ gesamtes Leben erklären könnte. Aber doch einen guten Teil davon. Die Fotografin leidet an Dyslexie, tut sich deshalb mit Lesen und Schreiben schwer. Nachdem sie (damals noch ein Mann) an drei israelischen Universitäten gescheitert war, empfahl die Mutter eine Spezialschule in Vermont. Es ist das erste Mal, dass Yishay Ab- stand zum Elternhaus gewinnt. Während der Zeit in England gibt es fast keinen Kontakt mehr zur Mutter. Garbasz heiratet eine israelische Frau, hält sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser. Die Scheidung bringt schließlich die Wende: Yishay ist finanziell abgebrannt und psychisch am Ende. »Ich wusste, ich habe ein Problem, aber ich wusste nicht welches.« Er sucht Halt in einem zen-buddhistischen Kloster in Upstate New York. Dort startet er eine Therapie, dort wagt er zum ersten Mal, den Lebensbericht der Mutter zu lesen, und dort kommt er auch in Kontakt mit Fotografie. Als er das Kloster nach zweieinhalb Jahren verlässt, schafft Garbasz es ohne Mühe auf eine renommierte Kunsthochschule. Fotografen-Legende Stephen Shore wird sein Mentor.
Von ihm habe sie gelernt, auf die Dinge zu blicken, so wie sie sind, sagt Yishay Garbasz. Manchmal lässt sie sich acht Stunden Zeit für ein Foto. »Man muss kein Drama machen, das Leben ist dramatisch genug.« Sie geht zur Pinnwand, zeigt auf ein Bild aus In My Mother’s Footsteps, das dort hängt. Darauf ist eine grüne Wiese zu sehen, nur ein schmaler Streifen Gras ist ein wenig anders gefärbt. »Dort war das Krematorium«, sagt sie. Im Buch steht neben dem Bild ein nüchterner Kommentar: »Dies ist einer der sechs Plätze, an denen die Asche meiner Großeltern verstreut sein könnte.«
2006 ließ Yishay Garbasz ihrer Mutter eine Vorab-Version von In My Mother’s Footsteps zukommen. »Danach haben wir telefoniert, und zum ersten Mal habe ich sie sprachlos erlebt.« Drei Wochen später stirbt Salla in einem Seniorenheim in Herzlija. Yishays Buch liegt auf dem Tisch in der Mitte des Raums. Alle sollten es sehen.
Heute, vier Jahre später, ist Yishay Garbasz ihrer Mutter vielleicht so nahe wie nie zuvor. Sie versteht besser, was in Salla vor- ging. Sie lebt jetzt als Frau. Von ihrer Wohnung bis zur Linienstraße, in die Salla nach ihrer Kindheit nie zurückkehren sollte, sind es nur ein paar Hundert Meter.
Weitere Informationen zum Fotoprojekt unter www.yishay.com