Israel

Blick in den Abgrund

Allein im Kibbuz Kfar Aza ermordeten Hamas-Terroristen 150 Menschen, darunter auch ein Familienmitglied des Autors. Foto: Flash 90

Ein unvergesslicher Abend war dieser 6. Oktober 2023. Ich saß mit meinem Sohn Tamir am Strand von Tel Aviv. Wir blickten bei einem Glas Wein auf zwei wunderbare Wochen zurück und überlegten, in welchem Restaurant wir den schönen Urlaub ausklingen lassen wollten. Wir waren gekommen, um unsere Familie in Israel nach der Pandemie wiederzusehen.

An diesem Abend eröffnete mir mein Sohn, dass er gern ein Auslandssemester an einer israelischen Universität absolvieren würde. Wir kehrten in unsere Airbnb-Wohnung zurück und begannen zu packen. Wir hatten unseren Aufenthalt so geplant, dass wir am 7. Oktober um 16 Uhr mit einer Maschine der Lufthansa nach Frankfurt zurückfliegen würden.

Am Morgen des 7. Oktober wurden wir durch explosionsartige Geräusche geweckt.

Am Morgen des 7. Oktober wurden wir durch explosionsartige Geräusche geweckt. Tamir stürmte in mein Zimmer und fragte mich, was der Lärm zu bedeuten habe. Ich war mir sicher, dass die israelische Luftwaffe militärische Übungen durchführte, und versuchte, ihn zu beruhigen. Nach einer Weile zeigte er mir auf seinem Handy, an welchen Orten Raketenalarm gemeldet wurde, während die Flugabwehr durch den »Iron Dome« immer eindringlicher reagierte.

Wir »verbarrikadierten« uns im Flur der Wohnung, starrten unentwegt auf den Abflugplan des Flughafens und stellten fest, dass eine Maschine nach der anderen ihren Betrieb einstellte. Nur die Lufthansa nicht. Wir hatten keine Ahnung, was um uns herum vor sich ging, konnten aber über die sozialen Medien erfahren, dass am Gazastreifen etwas Schreckliches passierte.

Unsere Familie lebte in Kfar Aza, daher rief ich besorgt meine Verwandten an

Unsere Familie lebte in Kfar Aza, daher rief ich besorgt meine Verwandten an. Ich musste erfahren, dass ein geliebtes und enges Mitglied unserer Familie soeben von den Terroristen der Hamas ermordet worden war: Die Witwe saß unterdessen im Schutzraum ihres Hauses, schrie über das Handy um Hilfe, während ihr erschossener Ehemann blutüberströmt in der Wohnung lag.

Der Schock, die Verzweiflung, die Hoffnung, dass all dies ein schlechter Albtraum war, bestimmten unsere nächsten Stunden. Wir waren buchstäblich auf der Flucht, kamen nur mithilfe eines Verwandten überhaupt noch an den Flughafen und waren anders als sonst, wenn jeder Abschied aus Israel mit Traurigkeit erfüllte, froh, noch mit der letzten Maschine der Lufthansa nach Frankfurt fliegen zu können.

Ich erzähle meine persönliche Geschichte deshalb, weil an diesem Tag etwas geschah, was sowohl jeden einzelnen Israeli als auch die israelische Gesellschaft als Ganzes erschütterte.

Ein halbes Jahr nach den unvorstellbaren Ereignissen des 7. Oktober wird allmählich deutlich, welches Beben an jenem Tag ausgelöst wurde: Die israelische Gesellschaft ist keineswegs zimperlich, wenn es um Fragen ihrer Sicherheit geht. Mit den Erfahrungen der Schoa im biografischen Gepäck ist die Bedeutung der Sicherheit für jeden Bürger und jede Bürgerin dieses Staates bei allen sonstigen politischen Differenzen, die es reichlich gibt, ein unbedingter Konsens.

Der jüdische Staat findet seine Legitimation in zahlreichen historischen Entwicklungen

Der jüdische Staat findet seine Legitimation in zahlreichen historischen Entwicklungen – die ich an dieser Stelle nicht in Erinnerung rufe –, darunter kommt dem Versprechen, einen sicheren Hafen für die Entwicklung und Gestaltung jüdischen Lebens zu garantieren, eine dominante Bedeutung zu. Sicherheit als höchstes Gut begründet in diesem Zusammenhang sowohl das Recht auf Angriff als auch auf Selbstverteidigung, wohl wissend, dass es keinen anderen jüdischen Staat weltweit gibt.

Wer wird uns, wenn es um unser Leben, unseren Staat, unser Überleben geht, zur Seite stehen?

An diesem Tag war das kollektive Versagen der politischen Klasse und der Armee der buchstäbliche GAU in einer Gesellschaft, die ihr Selbstbewusstsein und ihren Stolz auf ihre technologischen Fähigkeiten, ihre soziale Struktur, ihre demokratische und pluralistische politische Landschaft vor allem einer unbesiegbaren Armee verdankte.

Die israelische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die vom Überlebenskampf der ersten Jahrzehnte nach der Staatsgründung in einen politischen und militärischen Alltag überging, der immer wieder von militärischen Auseinandersetzungen mit umgebenden Staaten oder islamistischen Fundamentalisten geprägt war. Von Letzteren ging rückblickend zu keinem Zeitpunkt eine existenzielle Bedrohung aus.

Zwar hat der 7. Oktober die territoriale Integrität des Staates oder die Feuerkraft der israelischen Armee nicht grundlegend infrage gestellt, aber er hat die Grundfesten einer bürgerlichen Gesellschaft, nämlich das tiefe Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen zu sich selbst und in ihren Staat, mit Zweifeln übersät.

Sind wir also wieder dort, wo alles begann, als bei der Abstimmung in der UNO 1947?

Hinzu kommt, dass viele Staaten oder Organisationen, die bislang dem Staat Israel gegenüber – trotz aller politischer Differenzen mit den jeweiligen israelischen Regierungen – loyal aufgetreten sind, auf Abstand gehen und somit die Verzweiflung und Starrsinnigkeit auf israelischer Seite befeuern und die existenzielle Frage wieder öffentlich werden lassen: Wer wird uns, wenn es um unser Leben, unseren Staat, unser Überleben geht, noch zur Seite stehen? Sind wir also wieder dort, wo alles begann, als bei der Abstimmung in der UNO 1947, in der es um die Gründung des Staates Israel ging, um jede Stimme der Mitglieder dieses Gremiums gezittert wurde?

Ich glaube nicht, dass die Geschichte zu ihren Anfangspunkten zurückkehrt, aber eine traumatisierte Gesellschaft hat das Recht, ihre Ängste, ihre Sorgen und ihre tiefen Bedürfnisse zu äußern und sich für ihre Sicherheit einzusetzen. Die Bedrohungslage ist nach wie vor gegeben: Die Hamas ist nicht zerstört, das Tunnelsystem ist teilweise noch intakt, täglich gibt es im Norden und Süden Israels Raketenangriffe, Zehntausende Binnenflüchtlinge sind heimatlos im eigenen Land.

Die Hamas ist kein Partner bei der Konfliktlösung, da ihre Ideologie auf die Auslöschung Israels setzt. Daher stellt sich die Frage, wie die Terrororganisation entmachtet werden kann, gemäßigte Kräfte an die Macht kommen und die internationale Gemeinschaft in Zusammenarbeit mit arabischen Staaten die Verantwortung für einen Prozess der Annäherung übernimmt.

Eine traumatisierte Gesellschaft hat das Recht, sich für ihre Sicherheit einzusetzen.

Die jetzige politische Konstellation in Nahost ist so verfahren, dass nur zu hoffen bleibt, dass sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite neue politische Kräfte und anerkannte Persönlichkeiten an die Macht kommen, die vertrauensbildend, mutig, beharrlich und nicht korrupt sind, um den langen Weg zu einer Verständigung – allen Anfeindungen auf beiden Seiten zum Trotz – durchzusetzen.

Nach sechs Monaten sind die Bewohner Kfar Azas, darunter auch meine lieben Verwandten, in Kibbuzim und in Hotels in Tel Aviv untergebracht. Zeitpunkt der Rückkehr: offen.

Der Autor ist Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden.

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