Seit ein Hirte vor sieben Jahrzehnten bei der Suche nach einem verlorenen Tier in einer Höhle über dem Toten Meer die ersten sogenannten Qumran-Rollen entdeckte, gibt der Fund immer wieder neue Rätsel auf. Daran änderte sich auch nichts, als die systematische Suche nach weiteren Rollen außerhalb von Qumran erfolgreich war, zum Beispiel in Masada. Die Rätsel konnten bisher nur teilweise gelöst werden.
Die Analyse der Schriften, die bis vor Kurzem vor allem aufgrund philologischer Merkmale interpretiert wurden, ist jetzt durch biologische Analysemethoden verfeinert worden. Mit ihrer Hilfe hat eine interdisziplinäre und international zusammengesetzte Forschergruppe Antworten auf zentrale Fragen der Bibelforschung gegeben.
Viele der Rollen wurden offenbar gar nicht in Qumran geschrieben.
Ein Team um Oded Rechavi von der Universität Tel Aviv hat Erbgutreste analysiert, die es aus den Pergament-Fragmenten isoliert hatte. Das aus Tierhaut bestehende Pergament enthält DNA, die jedoch im Laufe der Zeit zunehmend degradiert. Mit zunehmendem Alter des Pergaments erhöht sich deshalb die Schwierigkeit, Teile des Erbguts zu identifizieren. Trotzdem führte die Analyse zu spektakulären Resultaten, wie die mehr als ein Dutzend Autoren Anfang Juni in der biologischen Fachzeitschrift »Cell« dargelegt haben.
PUZZLE Sie vergleichen ihre Herausforderung mit der Lösung eines Puzzles, bei dem man die Zahl der unbekannten Bestandteile nicht kenne, die im Laufe vieler Jahrhunderte verloren gegangen sind. Das Puzzle der Qumran-Rollen besteht aus annähernd 25.000 Fragmenten, die aus geschätzten 930 unterschiedlichen Manuskripten stammen. Sie umfassen die frühesten bisher bekannten Bibelversionen, mit Ausnahme des Buches Esther, sowie bisher unbekannte Texte. Puzzle-Teile, die einer DNA-Analyse unterzogen wurden, bestanden vor allem aus Schafleder. Zwei aber waren aus Rinderhaut. Die Unterschiede sind für die Forscher aussagekräftig. Denn sie zeigen, dass die Schriften wohl nicht am selben Ort entstanden sind.
Für den Laien klingen die Erkenntnisse anfänglich nicht sonderlich atemberaubend. Ein Teil der Rollen, so die Autoren, wurde erstens nicht in Qumran geschrieben, sondern von außerhalb der Essener-Niederlassung nach Qumran gebracht. Die Rollen von Qumran und diejenigen von Masada repräsentieren zweitens eine kulturelle Matrix des griechisch-römischen Judäa.
Doch die Resultate haben es in sich. Sie beleuchten den damaligen Stellenwert der Essener, jener antiken jüdischen radikalen Sekte, die vor der Zerstörung des Zweiten Tempels am Toten Meer ein asketisches Leben führte.
Forscher hatten ursprünglich angenommen, dass die Rollen von Essenern geschrieben oder kopiert worden waren. Aufgrund der jüngsten DNA-Analysen gehen Rechavi und sein Team jetzt aber davon aus, dass ein Teil der Texte von Gelehrten außerhalb der Essener-Sekte geschrieben wurde.
KOOPERATION Die Kooperation von Natur- und Bibelwissenschaftlern bringe neue Erkenntnisse oder bestätige bisherige Vermutungen, sagt Michael Segal, Bibelwissenschaftler an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie geben Einblick in das Judentum jener Zeit. Die jüngste Publikation analysiere verschiedene Textversionen auf unterschiedlichem biologischen Material. Damit lasse sich die Entwicklung biblischer Texte nachverfolgen.
Die DNA-Analyse gebe zudem Hinweise darauf, in welcher Höhle die Rollen gefunden wurden. Lediglich ein Viertel der Rollen wurde am Toten Meer von Archäologen entdeckt. Die meisten wurden von Beduinen gefunden und in den 50er-Jahren an Forscher oder Händler verkauft, was die spätere Spurensuche erschwerte. Mithilfe der DNA-Analysen konnte jetzt der exakte Fundort festgelegt werden.
Weil die Rollen vom Toten Meer aus der Zeit einer historischen Weggabelung stammen, seien sie »ein sehr interessantes Dokument«, sagt Jonathan Ben-Dov vom Department of Jewish History and Biblical Studies an der Universität Haifa. Sie seien während der Zeit des römischen Imperiums in Palästina geschrieben worden, an einem historischen Drehpunkt für die Entwicklung des Judentums und den Beginn des Christentums.
Die DNA-Analyse zeige, dass der biblische Text zu jener Zeit noch nicht »stabilisiert« war, sagt der Experte für die Rollen vom Toten Meer. Wichtige Fragen seien aber weiter offen, so Ben-Dov. War die Sekte der Essener auf Qumran beschränkt, oder beeinflusste sie auch andere Regionen im Land? Brachten sie ihre Schule und ihre Denkweisen nach Masada, oder gehörten die Schriften zum Kulturgut der Nation?
SCHABBATOPFER Als besonders wertvoll erachten Forscher die Erkenntnis, dass die Schabbatopfer-Lieder, die in Qumran gefunden wurden, aufgrund der DNA-Forschung nicht nur in Qumran, sondern in ganz Judäa gesungen wurden. Es handelt sich dabei um einen mystischen Text, der beschreibt, wie Engel um den Thron Gottes die Besinnung in himmlischen Sphären anführen. Das mystische Lied sei älter als andere, die wir kennen, so Ben-Dov. Aufgrund der DNA-Analyse können die Forscher feststellen, dass die Opfer-Lieder damals nicht bloß in Qumran verbreitet waren.
Ben-Dov wertet die soeben publizierte DNA-Analyse als »sehr wichtig« – und das sei erst der Anfang. Könnten 100 Rollen analysiert werden, wäre das »großartig«. Allerdings sei das Unterfangen kostspielig und zudem riskant, weil es sich um sehr empfindliches Material handle. Die Untersuchung, die sich über mehrere Jahre erstreckt, hat sich bisher erst eine relativ kleine Zahl von Rollen vorgenommen. Die Wissenschaftler sind aber überzeugt, dass die Analysen künftig weniger Zeit beanspruchen und weniger Geld verschlingen werden.