Sprachgeschichte(n)

Billiger Tinnef

Wie aus hebräischem Kot deutscher Schund wurde

von Christoph Gutknecht  02.01.2013 10:26 Uhr

Tinnef im doppelten Sinn Foto: Thinkstock

Wie aus hebräischem Kot deutscher Schund wurde

von Christoph Gutknecht  02.01.2013 10:26 Uhr

Das Wort »Tinnef« hat eine bunte etymologische Reise hinter sich. Im Aramäischen und Hebräischen stand »tinnûf« für Kot oder Schmutz. Auch dem jiddischen Wort »tin(n)eph« schrieb Friedrich C. Avé-Lallemant 1858 in seiner Untersuchung über das deutsche Gaunertum die Bedeutungen Kot, Dreck, Unflat zu und ergänzte, »tinef sein« hieße: verloren, überführt, verurteilt sein. Ignaz Bernstein (Jüdische Sprichwörter und Redensarten, 1907) deutete »Tünuf« gleichfalls als Unrat oder Dreck, bei Ernst Rabben (Über die Gaunersprache, 1906) tauchte »Tineffer-Gannew« für einen Dieb schmutzigen Charakters auf.

Anekdote Ein halbes Jahrhundert später führt Siegmund A. Wolf 1956 in seinem Wörterbuch des Rotwelschen für »Tinnef« neben dem skatologischen Bereich noch die Bedeutung auf, die man heute vor allem kennt: Schund. Für Juden bedeutete »tinnef« traditionell neben Dreck und der Nachgeburt beim Vieh auch schlechte Warenqualität oder Ausschuss. Werner Weinberg erzählt in Die Reste des Jüdischdeutschen 1973 die Anekdote vom jüdischen Händler, der einen Bauern heimbrachte und (in der Hoffnung, dieser verstünde kein Jiddisch) seine Frau bat: »Koch ‹ne gute Tasse Kaffee – melochen tinnef!«, sprich: Mach sie schlecht.

Aufgemotzter Schund war im Jiddischen »Tinnef mit Lakritze«. Das Buch Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten (2000) zitiert den Schriftsteller Walter Kiaulehn: »Im Winter verkaufte er auf den Berliner Plätzen und Weihnachtsmärkten Tinnef mit Lakritze: billigen Schmuck, Mokkalöffel, Messer und Spazierstöcke.«

In Artur Landsbergers Roman Bankhaus Reichenbach von 1928 zweifelt der Angeklagte Gregor Haase, »ob der Schmuck wohl echt sei, und er flüstert seinem Nachbarn zu: ›Tinnef!‹« Carl von Ossietzky schrieb 1931 in der »Weltbühne«: »Die wirksamste deutsche Industriepropaganda bleibt die Qualität, Tinnef mit der Handels-Gösch wird nicht begehrt.«

Im übertragenen Sinne taugt der Tinnef auch zur Allzweck-Invektive. Karl Kraus zitiert 1930 einen Berliner Theaterwitz: »Bessere Zeiten werden erst kommen, wenn man statt Weekend wieder Schabbes sagen wird und statt Girl wieder Chonte« und ergänzt mit den Zeilen: »Da fehlt noch, meinte ich, zum guten End’, dass man auch ›Tinnef‹ sagt statt ›prominent‹.«

Schon in seinem Mammutdrama Die letzten Tage der Menschheit ließ Kraus 1918 die jüdische Hofrätin Schwarz-Gelber ihren Gatten angehen: »Ohne mich bist du ein Tinnef für die Gesellschaft!« Das Schimpfwort »Tinnef« traf gelegentlich aber auch den »Fackel«-Herausgeber selbst. Der Journalist Anton Kuh, der Kraus literarisch befehdete, beschimpfte 1925 in einer Stegreifrede dessen publizistische Aktivitäten als »Tinnefologie« und Kraus’ Umfeld als »Tinnef-Hierarchie«.

BESCHEISSEN Etwa ab 1930 wurde »Tinnef« auch mit Unwahrheit gleichgesetzt, wie Heinz Küpper im Wörterbuch der Umgangssprache (1990) deftig erklärt: »Lügen wird mit Verunreinigung durch Kot gleichgesetzt: vgl. bescheißen.«

Und heute? Wolfgang Teuschls Dialekt-Lexikon (2007) verrät, dass man das Idiom in Wien immer noch versteht; »einen Tinnef haben« heißt in Oberösterreich: nichts haben. Bei uns wird »Tinnef« in der Alltagssprache für wertloses Zeug und im übertragenen Sinne auch für Unfug verwendet. Zu Glücksratgebern befragt, sagte etwa der Autor Heinz Strunk alias Mathias Halfpape: »Wie kann sich jemand anmaßen, mir sagen zu wollen, wie ich glücklich werde? Das ist doch Tinnef.«

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025