Der israelische Filmemacher Yahav Winner wurde beim Hamas-Massaker am 7. Oktober ermordet. Sein jüngster Kurzfilm »The Boy« handelt von einem Jungen in einem Kibbuz an der Grenze zu Gaza, der sich nicht mit dem Status quo zweier verfeindeter Völker abfinden will.
Gerade haben sich die Bewohner im Kibbuz Kfar Aza im gemeinsamen Speisesaal eingefunden, da ertönt Raketenalarm. »Code red, code red, code red«, plärrt es unaufhörlich aus Lautsprechern: Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen. Alle im Raum suchen Deckung, nur ein junger Mann bleibt ungerührt sitzen.
Es kann mitunter sehr schwierig sein, Bilder miteinander zu vergleichen. Bilder vom Davor und Danach. Die Bilder, die der junge israelische Filmemacher Yahav Winner in seinem Kurzfilm »The Boy« von seinem Heimatort Kfar Aza fand, waren vielschichtig. Der Kibbuz im Süden des Landes erscheint bei Winner als Idyll, geprägt von einer unterschwelligen Gewalt. Ein entschleunigter Zufluchtsort, der Wüste abgetrotzt und auf den Feldern und Gärten zum Blühen gebracht.
Gleichzeitig zieht ein scharfer, militärisch befestigter Zaun die Grenze zum Gazastreifen und dessen Bewohnern. Ein Widerspruch, an dem der junge Protagonist in »The Boy« fast zu zerbrechen droht. Für andere ist es hingegen schlicht der Status quo.
Winners Protagonist aber will sich mit diesem Status quo nicht abfinden und wird im Wortsinn daran verrückt. Nach der gemeinsam mit seinem Vater verrichteten Feldarbeit schleicht er nachts am Grenzzaun entlang. Jenseits davon kann man in der Dunkelheit die Silhouetten der Häuser von Gaza erahnen. Von ganz nah und zugleich ziemlich fern drängen die Geräusche der palästinensischen Siedlungen heran. Am Morgen hört man die Rufe der Muezzin von dort, die das beginnende Tagwerk von Vater und Sohn begleiten.
Die Szene des »Code red«-Alarms stammt aus Winners Film und rekurriert auf den allfälligen Raketenalarm in den Kibbuzim wie Kfar Aza. Denn im Unterschied zur Metropolregion von Tel Aviv, wo den Menschen zwei Minuten Zeit bleibt, um sich vor den Raketen in Sicherheit zu bringen, verbleiben in Kfar Aza nur wenige Sekunden, um Schutz zu finden. Als die Sirenen in »The Boy« losheulen, bleibt der Protagonist zum Entsetzen seines Vaters stur sitzen, während alle anderen längst in Deckung gegangen sind. Der Vater zwingt den Jungen schließlich unter den Tisch, wo die beiden bis zum Ende des Alarms ausharren. Auch diese Szene aus dem Leben in Kfar Aza zeigt Winner als eine Mischung aus Zärtlichkeit und Brutalität zugleich.
Am 7. Oktober war es »Red Alert« wie in »The Boy«, der die Bewohner von Kfar Aza um 6.30 Uhr aus dem Schlaf riss. Unter den Menschen in Kfar Aza befanden sich auch Yahav Winner und seine Ehefrau Shaylee Atary, die schon nach wenigen Minuten realisierten, dass es diesmal nicht nur Raketen waren, die den Alarm ausgelöst hatten. Im Gruppenchat des Kibbuz lasen sie die Nachricht von einer Infiltration durch Terroristen. Momente später hörten auch Winner und Atary erste Gewehrsalven, welche den frühen Morgen zerrissen.
Wenn man heute in den zerstörten Kibbuz Kfar Aza kommt, findet man ganz von alleine ins Zentrum des Schreckens. Auch Wochen nach dem Massaker braucht man nur seiner Nase zu folgen. Es riecht beißend scharf und süßlich zugleich.
Inmitten all der Zerstörung sind es jedoch vermeintlich unscheinbare Eindrücke, die sich nachhaltig einprägen. Bilder wie die eines kleinen Orangenbaums am Rande eines Gartens, den niemand mehr aberntet und dessen Früchte auf dem Boden verfaulen. Oder der flüchtige Anblick eines umherstreifenden Kätzchens, das bei jedem Donnerknallen des nahen Artilleriefeuers zusammenzuckt. Ein Straßenschild, das mahnend auf die Gegenwart von Kindern verweist.
An den Wänden der Bungalows haben das Militär und die Zaka-Organisation, die normalerweise mit der Identifikation von Unfallopfern betraut ist, vermerkt, wie viele Tote sich jeweils in den Häusern fanden. Die Wände der Wohn- und Kinderzimmer sind mit Einschusslöchern übersät, überall liegen Granatsplitter. Hier eine blutige Wolldecke, dort ein liegengebliebenes Paar Turnschuhe. Und über allem schwarzer Ruß.
Bilder vom Davor und Danach, die sich nicht und oder nur schwer miteinander vergleichen lassen. Shaylee Atary, die Witwe des von der Hamas ermordeten Yahav Winner, will, dass der Film gezeigt wird, an dem das Ehepaar gemeinsam gearbeitet hatte. Während der Deutschlandpremiere von »The Boy« beim Münchner Filmhochschulfest berichtete sie von den künstlerischen Visionen ihres Mannes. Sein Charakter offenbare sich in diesem Film genauso wie im Moment seines Todes.
Winner war es am 7. Oktober gelungen, die Terroristen so lange vom Eindringen ins Haus der Familie abzuhalten, bis Shaylee Atary und ihre neugeborene Tochter Shaya fliehen konnten. Bis zu ihrer Rettung durch die israelische Armee vergingen aber 27 Stunden, die Mutter und Tochter in einem Versteck zubrachten, während die Hamas-Mörder den Kibbuz Kfar Aza in eine Stätte des Horrors verwandelten.
Die grauenhaften Bilder vom »Schwarzen Schabbat«, wie der Tag in Israel mittlerweile genannt wird, haben im Netz ihren Weg auf Millionen Bildschirme auf der ganzen Welt gefunden, hunderttausendfach geteilt auf Plattformen wie TikTok oder X. Längst ist um diese entsetzlichen Aufnahmen eine heftige Debatte entbrannt, ob man die großteils von den Tätern selbst aufgenommenen Videos zeigen darf oder nicht. Viele sind der Ansicht, dass sie schon allein deshalb nicht in die Öffentlichkeit gehören, weil sie die Würde der Opfer verletzen. Von Israel aus betrachtet, muten diese Diskussionen seltsam theoretisch und entrückt an.
Auf dem »Hostage Square«, dem Platz vor dem Kunstmuseum in Tel Aviv, der seit dem Überfall der Hamas so genannt wird, zeigen Angehörige der nach Gaza entführten Geiseln unaufgefordert Aufnahmen, die von ihren Liebsten kursieren. Die Welt soll sehen, was passiert ist. Unter den Protestierenden sind auch Angehörige der beiden entführten Schwestern Ela (8) und Dafna (15). Das Video, das die Täter bei Facebook hochgeladen haben, zeigt die Tötung des Vaters sowie des Stiefbruders der beiden Mädchen. Dafna und Ela kamen am 26. November frei. Wenn man in die Gesichter der beiden Mädchen blickt, erahnt man, was sie mitgemacht haben.
Mit unbegreiflichen Bildern, mit Aufnahmen des Terrors und des Krieges beschäftigt man sich auch im nur wenige Schritte vom »Hostage Square« entfernt gelegenen Tel Aviv Museum of Art. Dort ist augenblicklich dem israelischen Filmemacher Amos Gitai eine Ausstellung gewidmet. Der Titel seiner Kriegsschau in Zeiten des Krieges: »Kippur - War Requiem«. Besucher werden auf gespenstische Weise aus der blutigen Gegenwart ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit versetzt, deren Ereignisse in einem unheimlichen Verhältnis zur Gegenwart stehen.
Ziel seines Filmschaffens, so Gitai im Begleitbuch der Ausstellung, sei stets eine Humanisierung des Anderen gewesen. Amos Gitai hat seine eigenen Kriegserfahrungen während des Yom-Kippur-Krieges im Jahr 1973 in zahlreichen Dokumentar-, Experimental- und Spielfilmen verarbeitet. Kurz vor seinem Einsatz hatte ihm seine Mutter eine Super-8-Kamera geschenkt, mit der Gitai Erlebnisse an der Front festhielt. Die Kamera, so Gitai, sei ihm eine Art Schild gewesen, mit der er sich gegen die brutale Realität abschirmen konnte.
In der Abstraktion des körnigen Materials, dem die Zeit einen fotochemischen Stich ins Lilafarbene verpasst hat, kommt man den Erfahrungen des jungen Soldaten nahe. Gitais Hubschrauber, aus dem heraus viele seiner dokumentarischen Bilder entstanden, wurde von einer syrischen Rakete abgeschossen. Gitai überlebte. Das Wrack des abgestürzten Helikopters wurde zu einer Art zweiter Geburtsstätte, aus der heraus ein wahrer Schaffensrausch des jungen Künstlers entstand.
Bereits während seiner Rekonvaleszenz entstanden expressive Gemälde von Gesichtern, die Gitai in schneller Folge produzierte. Im Museum sind neben auf Leinwänden projizierten Sequenzen seiner Dokumentararbeiten und des Spielfilms »Am Tag von Kippur« auch die frühen Gemälde zu sehen, die durch die dramatische Klangkulisse der im Loop ablaufenden Leinwandszenen umso dramatischer wirken. Eine wahre Kakophonie des Krieges.
Gitai ist ein Künstler des Bildarchivs, einer, der im Laufe der Zeit zu seinem eigenen Archiv wurde. Durch die Wiederbegegnungen mit diesem Material - Amos Gitai schuf im Laufe seines Lebens immer wieder Trilogien - eröffnen sich im zeitlichen Abstand stets neue Bedeutungszusammenhänge. Der Filmemacher wirft in seinen Arbeiten immer wieder die Frage nach dem Individuum inmitten des Kollektivs auf - besonders in Kriegszeiten. Dokumentarfilme wie »Wadi« aus den 1980er-Jahren widmen sich zudem der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen Palästinensern und Israelis. Um das Menschliche im jeweils Anderen erkennen zu können, müsse man »Widersprüche umarmen lernen«, liest man im Interview mit ihm im Ausstellungskatalog. Das aber brauche vor allem Zeit. Ein Gut, das unter den aktuellen Kriegsumständen mehr als knapp ist.
Von den Widersprüchen der Koexistenz weiß auch Ali Wakad zu berichten. Von dem palästinensischen Israeli stammt das Drehbuch des vielschichtigen Thrillers »Bethlehem« (2013). Das Drama um einen 17-jährigen arabischen Informanten des israelischen Geheimdienstes wurde aufgrund seiner raffinierten Konstruktion als das »The Wire des Nahen Ostens« bezeichnet. In der Folge schlug Wakad zahlreiche Angebote für Drehbücher aus, weil ihm Vorhaben nicht komplex genug erschienen. Heute ist Wakad Chef der arabischsprachigen Abteilung des israelischen Newssenders i24. Ein Projekt der Koexistenz, das im gesamten arabischen Raum geschaut werde, auch wenn das viele nicht zugeben würden; doch die Abrufzahlen im Netz belegten dies eindeutig, heißt es.
Biografien wie die von Ali Waked sind in Israel gar nicht selten, auch wenn man darüber kaum etwas hört. Am 7. Oktober verlor der arabische Israeli Wakad Bekannte durch den Terroranschlag der Hamas und in Folge der militärischen Reaktion Israels Familienangehörige im Gazastreifen. Besonders ärgert sich Wakad über die Israelboykottbewegung BDS, die es auf Journalisten wie ihn abgesehen habe. Den Aktivisten der Kampagne, deren Ausläufer seit Jahren auch den deutschen Kulturbetrieb umtreiben, gehe es darum, Stimmen wie die seine zum Verstummen zu bringen; er werde von ihnen regelmäßig bedroht. Doch Wakad hält dagegen: Er wolle zeigen, dass »der Konflikt kompliziert ist und nicht nur Schwarz oder Weiß kennt«.
Eine eindeutige Position bezieht der Sender dennoch. Wenn man Ali Wakad bei seinen Ausführungen über die Strukturen der Hamas, deren Verflechtungen und Machtkämpfe ihrer Anführer zuhört, ahnt man, dass noch die eine oder andere komplexe Drehbuchidee in seinem Kopf stecken könnte, die auf Verwirklichung harrt.
Unter den momentanen Bedingungen ist es schwer vorstellbar, wie die israelische Filmcommunity jemals wieder zu einem »Normalzustand« zurückkehren soll. Viele junge Filmschaffende befinden sich aktuell im Kriegseinsatz oder sind Reservisten, die auf ihren Einsatzbefehl warten. Darunter auch Ben Peled, der Kameramann des Films »The Boy«, sowie der Hauptdarsteller Nimrod Peleg.
Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, zu welcher Art von Bildern das Kino nach dem 7. Oktober finden kann und wie mit den Aufnahmen der Gräueltaten umgegangen werden kann. Wegsperren lassen sie sich ja kaum. Leichtfertig zu fordern, jeder müsse sie sich ansehen, um das Geschehene zu bezeugen, ist auch kein Weg. Die grauenhaften Terrorbilder besitzen durchaus das Potenzial, ihre Betrachter seelisch und körperlich krank zu machen. Am grauenhaftesten ist dabei das Lachen der Mörder während ihrer Taten. Allein schon deshalb, um sie nicht triumphieren zu lassen, sind andere Wege des Erinnerns nötig.
Das Visual History Archive, das auf die von Steven Spielberg 1994 gegründete Shoah Foundation zurückgeht, weist in dieser Hinsicht vielleicht einen Ausweg. Mitarbeiter des Archivs haben begonnen, Zeugenberichte der Attentate vom 7. Oktober filmisch zu dokumentieren. Unter ihnen auch Überlebende des Kibbuz Kfar Aza. Ihre Botschaft: Vor diesen Zeugnissen dürfen die Augen und Ohren nicht verschlossen werden.