Persönlich

Bilder der Nacht

Charlotte Beradts Klassiker der Traumdokumentation wird in einer Neuausgabe wiederentdeckt

von Oliver Pfohlmann  02.01.2017 18:43 Uhr

Foto: Suhrkamp

Charlotte Beradts Klassiker der Traumdokumentation wird in einer Neuausgabe wiederentdeckt

von Oliver Pfohlmann  02.01.2017 18:43 Uhr

Im Berliner Tiergarten sieht ein Mann zwei Bänke, eine gewöhnliche grüne und eine gelb gestrichene für Juden. Er setzt sich weder auf die eine noch auf die andere, sondern auf den Papierkorb dazwischen. Dann befestigt er ein Schild um seinen Hals. Die Aufschrift: »Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz.« Das ist keine Szene aus Becketts Endspiel, sondern der Albtraum eines jüdischen Rechtsanwalts um 1935 in Berlin, dem zeitlebens vor allem sein bürgerliches Ansehen wichtig war. Der Traum verdichtete seine Diskriminierungserfahrungen zu einem Bild von verblüffender Luzidität.

Träume wie dieser waren für Charlotte Beradt (1907–1986) Belege dafür, dass das NS-Regime von Beginn an auch »in das Allerprivateste« eingriff: den Schlaf und den Traum. Bis zu ihrer Flucht 1939 gelang es der Journalistin, Traummaterial von über 300 Personen, jüdischen wie nichtjüdischen, zu sammeln. 50 dieser Träume aus den Anfangsjahren der Diktatur wählte Beradt für eine kommentierte Sammlung aus, als einen »kleinen Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus«. Das Dritte Reich des Traums erschien 1966 und kann nun dank einer Neuausgabe wiederentdeckt werden.

Motive Höchst aufschlussreich sind diese Träume, die Charlotte Beradt in elf eindrucksvoll komponierten Kapiteln präsentiert. Immer wieder begegnen in »nachtwandlerisch klaren Bildern« Motive wie Selbstentfremdung, Isolation und der Verlust von Würde, aber auch ganz unverhüllt Wünsche nach moralischer Integrität oder Zugehörigkeit. Letzteres etwa im Traum eines Arztes, der 1934 tags zuvor nicht den Mut gefunden hatte, einem Nazi-Kollegen die Meinung zu sagen.

»Ich bin in einem Konzentrationslager, aber es geht allen Häftlingen sehr gut, Diners werden abgehalten, es gibt Theatervorstellungen. Ich denke, es ist also doch sehr übertrieben, was man so aus Lagern hört, da sehe ich mich in einem Spiegel: Ich habe die Uniform eines Lagerarztes an, besondere Schaftstiefel, die glitzern wie Brillanten. Ich lehne mich an den Stacheldraht und fange wieder zu weinen an«, so der Traum des Arztes.

So sind es gerade jene Träume, die zeigen, wie sich die »innere Gleichschaltung« auch in Regimegegnern vorbereitete, wie sie zu Mitläufern wurden, die unheimlichsten dieser Sammlung.

Charlotte Beradt: »Das Dritte Reich des Traums«. Hg. und mit einem Nachwort von Barbara Hahn. Suhrkamp, Berlin 2016, 173 S., 22 €

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  14.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

Krefeld

Gütliche Einigung über Campendonk-Gemälde

An der Einigung waren den Angaben nach die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), das Land NRW und die Kulturstiftung der Länder beteiligt

 13.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Mascha Kaléko

Großstadtdichterin mit sprühendem Witz

In den 20er-Jahren war Mascha Kaléko ein Star in Berlin. Die Nazis trieben sie ins Exil. Rund um ihren 50. Todestag erleben die Werke der jüdischen Dichterin eine Renaissance

von Christoph Arens  13.01.2025

Film

»Dude, wir sind Juden in einem Zug in Polen«

Bei den Oscar-Nominierungen darf man mit »A Real Pain« rechnen: Es handelt sich um eine Tragikomödie über das Erbe des Holocaust. Jesse Eisenberg und Kieran Culkin laufen zur Höchstform auf

von Lisa Forster  13.01.2025

Sehen!

»Shikun«

In Amos Gitais neuem Film bebt der geschichtsträchtige Beton zwischen gestern und heute

von Jens Balkenborg  12.01.2025

Omanut Zwillenberg-Förderpreis

Elianna Renner erhält Auszeichnung für jüdische Kunst

Die Schweizerin wird für ihre intensive Auseinandersetzung mit Geschichte, Biografie und Politik geehrt

 12.01.2025