Die Macher der »Süddeutschen Zeitung« (SZ) sind gemeinhin für ihre Professionalität und journalistische Qualität bekannt. Gewissenhaft produzieren ihre Redakteure Tag für Tag ein gewichtiges Blatt, das zwischen München und Hamburg mehr als 1,2 Millionen Leser erreicht. Sie neigen weder zur Lautstärke noch zur Effekthascherei. Gediegenheit ist ihre Domäne.
Es sei denn, es rührt sich etwas im Nahen Osten, genauer: zwischen Mittelmeer und Jordan. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem nicht nur die Betriebstemperatur ansteigt, sondern auch die diszipliniertesten Mitarbeiter Gefühle zeigen. Denn was die »Süddeutsche« vor allem auszeichnet, sind ihre sensiblen Antennen in den Fachbereichen »deutsch-jüdische Symbiose«, historische Verantwortung und angewandte »Israelkritik« – wobei die beiden letztgenannten Ressorts eher deckungsgleich sind.
missbrauch Wann immer es also gilt, den Israelis mahnend den rechten Weg zu weisen, ist mit der SZ zu rechnen. Da ist es freilich kein Wunder, dass sie nicht schweigen kann, wenn ausgerechnet der israelische Beitrag zum Eurovision Song Contest (ESC) auf dem ersten Platz landet.
Bereits kurz nach Netta Barzilais erstem Platz schloss die Online-Ausgabe des Blattes messerscharf, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wolle den ESC »für seine Zwecke politisch missbrauchen«, indem er der Sängerin gratulierte und Jerusalem als Austragungsort 2019 benannte.
So sind sie eben, die Israelis im Allgemeinen und die Netanjahus im Besonderen: Aus allem schlagen sie Profit. Das unterscheidet sie von anderen Völkern wie etwa dem deutschen, wo man guten Gewissens jede Form von Missbrauch ausschließen konnte, als die Bundeskanzlerin 2010 der deutschen ESC-Gewinnerin Lena Meyer-Landrut gratulierte.
Davidstern Vergangene Woche jedoch hat die SZ in dieser Angelegenheit zusätzlich den Karikaturisten und Bundesverdienstkreuzträger Dieter Hanitzsch um Hilfe gebeten. In der Print-Ausgabe vom 15. Mai präsentierten die Blattmacher ihren Lesern eine Karikatur, die hinsichtlich der Silhouette Netta Barzilai, im Gesicht jedoch den israelischen Premier – versehen mit überproportionalen Ohren, Lippen und Nase – zeigt. Nettanbibi von seiner hässlichsten Seite quasi.
Triumphierend hält Netanjahu eine mit Davidstern verzierte Rakete in die Höhe. »Nächstes Jahr in Jerusalem!«, heißt es in einer Sprechblase, daneben der Eurovision-Song-Contest-Schriftzug, in dem das »v« ebenso durch einen Davidstern ersetzt wurde. Was genau der Karikaturist seinen Lesern damit sagen möchte, ist nicht unmittelbar erkennbar. Vielleicht muss man schon länger ein SZ-Abo besitzen, um darin einen Sinn erkennen zu können.
Stört er sich daran, dass die israelische Künstlerin den Musikwettbewerb gewonnen hat, ohne sich gleich im Anschluss bei der SZ zu rechtfertigen und für die Siedlungspolitik zu entschuldigen? Kommt er nicht darüber hinweg, dass Israel nun auch noch das europäische Siegertreppchen (womöglich völkerrechtswidrig) besetzt? Und was hat Netta als Künstlerin wiederum mit der Staatsführung, gar mit den israelischen Raketen zu schaffen?
bomben Das eine, so möchte man meinen, ist die Politik Netanjahus, das andere die Kunst, und das übernächste wiederum die Gewalt an der israelischen Grenze zu Gaza, gegen die sich die israelische Armee eben auch mit gezielten Angriffen auf Hamas-Stellungen verteidigt.
Doch in dem Werk von Dieter Hanitzsch geht es weniger um Schattierungen als vielmehr um das große Ganze: die düsteren Machenschaften des Benjamin Netanjahu. Eines Mannes also, der sich hier nur als Regierungschef tarnt, in Wirklichkeit aber mit seinen schwulstigen Lippen und seiner überdimensionalen Nase »den Juden« an sich repräsentiert. Erst bearbeitet er den US-Präsidenten dahingehend, Jerusalem als Hauptstadt anzuerkennen, nebenbei bombardiert er die leidenden Palästinenser.
Und als wäre das nicht schon genug, reißt er sich jetzt auch noch den ESC unter den Nagel. Der raffgierige Premier lässt nicht nur Netta wie eine Marionette zum ESC tanzen, er flüstert nicht nur dem US-Präsidenten sinistere Pläne ein, nein, er nimmt nun zusätzlich die Europäer in Geiselhaft, die nächstes Jahr in Jerusalem eine Hauptstadt zu »legitimieren« haben, die den Juden ja eigentlich gar nicht zusteht – zumindest aus Sicht vieler SZ-Leser.
Jerusalem Kurzum: Der skrupellose Bibi hat uns alle in der Hand, von Washington über Jerusalem bis nach Europa, und dabei macht er auch vor Lesern der SZ nicht halt. Insofern muss man Dieter Hanitzsch durchaus Anerkennung zollen: Nicht vielen Karikaturisten gelingt es, große Teile des Sündenregisters der Juden seit der Kreuzigung Jesu so kompakt in nur einer Karikatur unterzubringen.
Und das wiederum heißt schon etwas, denn die Karikaturisten-Konkurrenz rund um die SZ schläft wahrlich nicht. Anlässlich der Übernahme von WhatsApp durch das soziale Netzwerk Facebook druckte die Zeitung eine Karikatur, die Mark Zuckerberg als weltherrschafts-affine Krake zeigt.
Schon ein paar Jahre länger ist es her, dass die SZ Israel im Rahmen einer Karikatur samt Buchkritik als abstoßenden Moloch darstellte, dem Deutschland bedingungslos zu dienen habe. Einige Monate später illustrierte das Blatt seine Leserbriefseite, die sich dem Chaos am Mainzer Hauptbahnhof widmete, mit einem Foto der Gleise im NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. »Um die richtigen Weichen zu stellen, braucht die Bahn Personal«, stand darunter.
Entschuldigung Darauf folgte jedes Mal ein Statement, das wie eine Entschuldigung aussah. So ähnlich auch jetzt, da die SZ auf Kritik reagiert hat, ihre Veröffentlichung als Fehler bezeichnet, sich von ihrem Karikaturisten nach kritischen Wortmeldungen des bayerischen Antisemitismusbeauftragten Ludwig Spaenle und dessen Kollegen auf Bundesebene, Felix Klein, zwar getrennt hat, zugleich aber mitteilte, er habe »lediglich darauf hinweisen wollen, dass das nächste ESC-Finale 2019 in Jerusalem stattfinden soll«. Und weiter: »Trotz dieser Intention des Karikaturisten kann man die Zeichnung auch anders verstehen und als antisemitisch auffassen.«
Da ist natürlich etwas dran. Wie die Kunst liegt auch der Judenhass im Auge des Betrachters. Alles ist relativ. Allein das Gebaren der Israelis ist stets eindeutig, und zwar eindeutig zu verurteilen. Zumindest von München aus betrachtet.
Das letzte Wort hat der Zeichner selbst. Auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen sagte Dieter Hanitzsch: »Dass sich die Redaktion entschuldigt, ist ihre Sache. Ich entschuldige mich nicht.« Zur Aussage, dass man die Zeichnung als antisemitisch auffassen kann, erklärte der 1933 geborene Zeichner: »Der Vorwurf trifft mich nicht. Habe es so nicht gemeint. Die Politik Netanjahu möchte ich kritisieren können, auch als Deutscher.«