Die umstrittene antisemitische Schmähplastik an der Stadtkirche in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) muss nicht abgenommen werden. Das stellte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe in einem am Dienstag verkündeten Grundsatzurteil klar.
Das Gericht wies damit in letzter Instanz die Klage eines Bonner Juden ab, der sich von der mittelalterlichen Darstellung von Juden als Schweinen beleidigt gefühlt hatte.
BEGRÜNDUNG Der Vorsitzende Richter Stephan Seiters sagte in der Begründung des Urteils, es fehle dem Kläger an dem für eine Entfernung notwendigen »gegenwärtigen Rechtsanspruch«. Zwar sei das Relief »in Stein gemeißelter Antisemitismus«. Isoliert betrachtet verhöhne und verunglimpfe es das Judentum als Ganzes. Durch eine solche Darstellung werde auch der Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen.
Obwohl der Kläger als Jude sich durchaus in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt sehen könne, so Seiters, habe die Wittenberger Kirchengemeinde »den ursprünglich rechtsverletzenden Zustand dadurch beseitigt, dass sie unter dem Relief eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in Bronze gegossene Bodenplatte [...] enthüllt und in unmittelbarer Nähe dazu einen Schrägaufsteller mit der Überschrift ›Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg‹ [...] angebracht hat.«
Die beklagte Kirchengemeinde könne sich von dem Aussagegehalt der Plastik auch dadurch distanzieren, dass sie sie kontextualisiere und in eine »Stätte der Mahnung zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zum Holocaust umwandelt«.
Anders als der Kläger meine, könne der von dem Sandsteinrelief ausgehende rechtsverletzende Zustand nicht allein durch Entfernung des Reliefs beseitigt werden. Auch wenn kaum eine bildliche Darstellung denkbar sei, die in höherem Maße im Widerspruch zur Rechtsordnung stehe, gebiete die Rechtsordnung nicht die Beseitigung der Schmähplastik, urteilten die Richter.
Es gebe mehr als diese eine Möglichkeit, um die »rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft« abzustellen. Die Umwandlung des »Schandmals« in ein Mahnmal und in ein Zeugnis für die Jahrhunderte währende judenfeindliche Geisteshaltung der christlichen Kirche sei eine der Möglichkeiten, den Aussagegehalt zu beseitigen.
Bestünden, wie im vorliegenden Streitfall, mehrere Möglichkeiten, eine rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft abzustellen, müsse es dem »Schuldner« überlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigen wolle, so der sechste Zivilsenat des Bundesgerichtshofs.
SCHMÄHUNG Das Sandsteinrelief hängt seit mehr 700 Jahren an der Wittenberger Stadtkirche. Es zeigt eine Sau und an deren Zitzen zwei durch ihre spitzen Hüte als Juden identifizierbare Menschen. Ein Rabbiner hebt den Schwanz des Tiers und blickt ihm in den After. In Anlehnung an zwei judenfeindliche Hetzschriften des Reformators Martin Luther wurde 1570 als zusätzliche Schmähung über dem Relief die Inschrift »Rabini-Schem HaMphoras« angebracht.
1983 entschied der Kirchengemeinderat, das Relief an seinem Ort zu belassen. 1988 wurde eine Bronzeplatte samt einer Inschrift in den Boden eingelassen. »Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen«, ist dort zu lesen.
Erst 30 Jahre später kam eine Stelltafel mit weiteren Erläuterungen hinzu. Die umgangssprachlich als »Judensau« bezeichnete Skulptur blieb jedoch an ihrem angestammten Platz. Auch der Rat der Lutherstadt votierte 2017 für ihren Erhalt an der Stadtkirche. Das Ensemble aus Relief und Bodenplatte sei als Mahnmal zu verstehen und müsse heute in seinem historischen Kontext betrachtet werden.
KLAGE Der zum Judentum konvertierte Dietrich Düllmann legte gegen diese Entscheidung vor dem Landgericht Dessau Klage ein und forderte die Entfernung der »Judensau«, wenigstens aber die Feststellung, dass das Objekt den Tatbestand der Beleidigung nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuches erfülle. Doch das Gericht in Dessau als auch das Oberlandesgericht Naumburg wiesen die Klage ab.
Zwar sei das Wittenberger Relief ursprünglich als gezielte Verhöhnung von Juden gedacht gewesen. Es sei heutzutage aber mitsamt der Bodenplatte als Teil der Erinnerungskultur anzusehen. Zudem bringe die nunmehr angebrachte Erklärtafel zum Ausdruck, dass sich die Kirche vom Antisemitismus Luthers und von der Schmähplastik distanziere, so die Richter in Sachsen-Anhalt.
Der Kläger zog daraufhin vor den Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. Die Anwältin der Kirchengemeinde sagte in der Verhandlung, man dürfe »die Erinnerungskultur nicht dem Zeitgeist opfern«. Es gebe zahlreiche Beispiele für Darstellungen, die aus heutiger Sicht nicht mehr zeitgemäß seien und womöglich aus Büchern und Filmen gestrichen werden müssten. »Wie sollen Kinder in der Schule etwas über die Diskriminierung von Juden lernen, wenn es dazu nichts mehr zu sehen gibt?«
EINORDNUNG Der Rechtsbeistand des Klägers warf der Kirchengemeinde vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen: »Bei einer so schweren Beleidigung muss ich als Verantwortlicher mein Äußerstes tun, um die Wirkung zu beseitigen. Das hat die evangelische Kirchengemeinde nicht getan«. Zudem sei die Darstellung von Juden als Schweine immer schon hetzerisch gemeint gewesen – und nicht erst heute.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hatte im Vorfeld des Urteils die Kirche aufgefordert, deutlicher als bislang Stellung zu beziehen. Zwar teile er die Auffassung, das umstrittene Werk an Ort und Stelle zu belassen.
Aber, so Schuster: »Die antijudaistische Geschichte der Kirche lässt sich nicht ungeschehen machen. Daher ist die Anbringung einer Erklärtafel besser, als eine solche Schmähplastik einfach zu entfernen und damit zu verleugnen. Eindeutige Erläuterungen sind jedoch zwingend notwendig.«
AZ: VI ZR 172/20
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