In Deutschland gilt David Grossman gemeinhin als »Mahner«, hierzulande werden seine kunstvollen und hochkomplexen Romane häufig missverstanden als literarische Illustration seines politischen »Engagements für den Frieden«.
In Israel hat das Zerrbild andere Konturen. Werfen ihm vulgäre Rechtsnationalisten seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten vor, eine Art Landesverräter in spe zu sein, weisen gebildetere konservative Kritiker süffisant auf zweierlei hin: Für die Friedensideen des Schriftstellers und notorischen Nobelpreiskandidaten gibt es noch nicht einmal in minoritären Intellektuellenzirkeln ein palästinensisches Pendant; außerdem kenne Grossman »die Araber« gar nicht und spreche nur von sich selbst.
krieg Die Lektüre seines neuen Bandes Eine Taube erschießen – eine speziell für Deutschland zusammengestellte Auswahl aktueller Reden und Essays – scheint vordergründig genau diese Interpretation zu stützen. Ein weiteres Mal spricht David Grossman hier über die Notwendigkeit, mit den Palästinensern eine zukunftsfähige Vereinbarung zu finden. Zudem erinnert er erneut an das tragische Schicksal seines Sohnes Uri, der in den letzten Stunden des Libanonkrieges im Jahr 2006 von einer Hisbollah-Rakete tödlich getroffen wurde – während Grossman gerade an seinem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht schrieb, der ebenjene ewig scheinenden Kriegstraumata thematisierte.
Gewiss, hier spricht also einer von sich selbst. (Was konventionelle »Mahner« mit ihrer zeigefingernden Spezialisierung auf Moral-Auslagerung freilich nur selten tun.) Wenn er zitiert, dann jedoch den deutsch-israelischen Dichter Jehuda Amichai (1924–2000), der uns allen diesen wundersamen Vers geschenkt hat: »Dort wo wir recht haben, werden niemals Blumen wachsen.«
Von sich sprechend, fragt deshalb David Grossman, ob nicht vielleicht auch er in einem Narrativ, und zwar »dem Narrativ eines illusionären Friedens«, gefangen sei. Das wirksamste Gegenmittel, noch immer: »Jedes Narrativ, auch mein eigenes, ein bisschen aufzuweichen, damit es wieder zu einer Geschichte von lebendigen Menschen wird.«
Moralismus Hand aufs Herz: Wer von Grossmans linken Bewunderern und rechten Verächtern wäre zu solch einer souveränen Selbstbeschreibung in der Lage? Wenn der Autor – etwa in seinen Reden zur Verleihung des Münchner Geschwister-Scholl-Preises, zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels oder in einer berührenden Ansprache zum 75. Geburtstag Joachim Gaucks – seine eigene Position markiert, geht es immer wieder um »Zellen freien Willens in einer Realität von Willkür, Zwang und Entfremdung«.
Wohlfeiler Moralismus? Im Gegenteil, denn auch Grossmans Plädoyer gegen Besatzung und für territoriale Trennung hat nichts mäandernd Harmonisierendes, sondern folgt einer rationalen Logik: »Wer keine Grenzen hat, gleicht einem, in dessen Haus die Wände sich fortwährend bewegen, einem, der keinen festen Boden unter den Füßen spürt. Einem, der kein wirkliches Zuhause hat.«
Das ist eindeutig und von kristalliner Klarheit: Hier meldet sich einer zu Wort, der sein geliebtes Israel stark und sicher haben möchte – und dabei auf die makabre Volte hinweist, dass ausgerechnet die alarmistische Rechte Israels gottlob beeindruckende Militärmacht immer wieder kleinredet. (Es wäre interessant zu sehen, ob solche Reflexionen auch zu Narrativ-Überprüfungen bei linken oder rechten Lesern führen.)
schoa David Grossman, der die Bedrohung Israels durch den Iran, Hamas, Hisbollah und palästinensischen Terror in keiner Zeile leugnet, geht dennoch mit seinem Premierminister äußerst hart ins Gericht: Benjamin Netanjahu sei ein Fachmann dafür, die reale Gefahr permanent mit der Erinnerung an den Holocaust zu verbinden, Traumatisierungen wiederaufleben zu lassen – und damit den jüdischen Staat Israel letztlich zu schwächen.
»Die Rechte«, konstatiert Grossman, »hat Israel bezwungen, indem sie das zum Erliegen brachte, was man einmal den ›israelischen Geist‹ nennen konnte: jene Fähigkeit, sich selbst neu zu gebären, jenen Geist des Trotz-allem-voll-Mut und der Hoffnung.« Die Lage, so der Schriftsteller, sei zu verzweifelt, um sie den Verzweifelten zu überlassen.
»Den Luxus, zu verzweifeln, kann ich mir nicht leisten. Ich habe in Israel Kinder und Enkel, und ich möchte, dass sie hierbleiben können und ein Leben in Frieden kennenlernen. Wenn die Situation so, wie sie ist, noch hundert Jahre weiter besteht, wie es mir jener hohe Regierungsvertreter mit eigenartiger Freude versicherte, dann werden nur noch Fanatiker und Militante hierbleiben wollen. Nur Menschen, die der endlose Krieg in seinem Ebenbilde geformt hat.«Es sind keine illusionären oder politisch korrekten Seligkeiten, die hier mit emanzipatorischem Patriotismus gepriesen und eingeklagt werden, sondern schlicht die Grundvoraussetzungen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Stabilität.
Möge der stringente, doch niemals eifernde Duktus dieses Schriftstellers auch all jene erreichen, die aus den jeweils falschen Gründen glauben, David Grossman entweder bewundern oder missbilligen zu müssen.
David Grossman: »Eine Taube erschießen. Reden und Essays«. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser, München 2018, 128 S., 18 €