Die Diskriminierung von Sinti und Roma zieht sich durch jeden Lebensbereich: vom verweigerten Kindergarten-Besuch über Schulen, die froh sind, wenn »diese Kinder wegbleiben«, und Dolmetscher, die wichtige Informationen nicht übersetzen, weil sie vermuten, die Adressaten seien an Themen wie Bildung ohnehin nicht interessiert, bis hin zu massiven Schwierigkeiten mit Krankenversicherungen und Vermietern. Das ist eines der Ergebnisse, zu dem das von Gudrun Perko und Leah Carola Czollek herausgegebene Buch Antiromaismus und Antisintiismus kommt.
Der gerade erschienene Band entstand im Format Forschungswerkstatt der Fachhochschule Potsdam, an der Gudrun Perko lehrt. Bei diesem Format arbeiten zwölf Studierende zwei Semester lang zu einem selbst gewählten Thema. Im Falle des Buchs über Antiromaismus und Antisintiismus fiel dieses knappe Jahr ausgerechnet in die Corona-Hochphase, wie Gudrun Perko berichtet. »Die Hochschule war fast durchgängig geschlossen, wir haben uns praktisch nur über Zoom gesehen, Workshops, Interviews, alles ging nur online«, sagen Perko und Czollek.
Durch gute Verbindungen zur Gruppe RomaTrial, eine transkulturelle Roma-Selbstorganisation, konnte jedoch eine Gruppe Jugendlicher eingebunden werden, die den Studierenden nicht nur über ihre Erfahrungen berichteten, sondern auch als Experten und Expertinnen einen Workshop für die Studierenden anboten.
Vorurteile Das sei sehr wichtig gewesen, sagen die beiden Pädagoginnen, denn während der Schulzeit werde kaum Wissen über die Verfolgung der Sinti und Roma vermittelt, geschweige denn über noch heute verbreitete Vorurteile.
»Es gibt keine Kenntnisse der Geschichte«, fasst Leah Carola Czollek die Erfahrungen mit Pädagogen und Pädagoginnen in Bereichen der Sozialen Arbeit zusammen. »Oft wissen diese Leute gar nicht, dass es auch einen Holocaust an Sinti und Roma gab, einen Völkermord, der 1942 beschlossen wurde.«
In der Schulzeit werde kaum Wissen über den Völkermord vermittelt.
So gebe es beispielsweise keinerlei Verständnis dafür, dass sich die Familien oft schwertun, ihre Kinder in die Schule oder in den Kindergarten zu geben. »Heute weiß man, dass erlittene Traumata über die Generationen fortgetragen werden«, erklärt Czollek, »aber wenn es kein Bewusstsein dafür gibt, dass Roma-Kinder während der Nazizeit direkt aus den Schulen nach Auschwitz abtransportiert wurden, kann auch kein Vertrauen aufgebaut werden.«
Ohnehin sei es dem Personal in Schulen und auch Kitas oft sogar lieber, wenn es keine Sinti- und Roma-Kinder in ihren Einrichtungen gebe. Entsprechend werde dort wie in Behörden auch nicht immer auf die Einhaltung der Schulpflicht geachtet. Und wo die Kinder doch aufgenommen werden, landen sie oft genug sofort in Förderklassen, selbst wenn sie sehr gut Deutsch sprechen. »Es ist ja nicht einmal so, dass es dort für sie eine schnelle Sprachförderung gibt, und danach kommen die Kinder wieder in die regulären Klassen«, sagt Czollek, »nein, sie sitzen da vier Jahre lang herum und lernen nichts.«
ungerechtigkeiten Kein Wissen sei das große Problem, findet Gudrun Perko, aber andererseits habe sie immer wieder festgestellt, dass die jungen Studierenden der Sozialen Arbeit sehr offen und interessiert daran seien, mehr über in ihrer Schulausbildung sehr selten behandelte Themen wie Antisemitismus, Antiromaismus und Antisintiismus zu lernen. In der Öffentlichkeit werden diese Ungerechtigkeiten kaum thematisiert.
Liegt das vielleicht auch an dem Trend in sozialen Medien, wonach Leute, die sehr plakativ solidarisch mit einer Minderheit sind, zu denken scheinen, dass sie so eine Art Freibrief haben, dafür eine andere Minorität ausgiebig diskriminieren und hassen zu dürfen? »Fangen wir beim Antisemitismus an«, antwortet Czollek, »da gibt es einige Beispiele.« Gudrun Perko fügt hinzu: »Bedauerlicherweise kann man nicht sagen, dass Menschen, weil sie diskriminiert werden, selbst nicht diskriminierend sind.«
Viele kümmerten sich, so Perko, ohnehin nur um die Diskriminierungsform, von der sie selbst betroffen seien. Darüber hinaus sei »Antisemitismus der Kitt, der alle verbindet, ob das nun Rechtsextreme, Linke, die BDS-Bewegung, ein Großteil der feministischen Community oder Islamisten und so fort sind.« »Natürlich«, betont Perko, »sind es nie alle aus den genannten Richtungen. Aber sehr viele finden, dass sie von sich aus antisemitisch sein dürfen.« Das habe sich in den vergangenen Jahren sehr und extrem verschärft: »Wir erleben das nicht nur auf Twitter, sondern auch bei Tagungen, auf Vorträgen, in Arbeitsstellen.«
Konsequenz Eine Konsequenz, die Czollek und Perko für sich aus dem grassierenden Antisemitismus gezogen haben: »Wir haben uns angewöhnt, zuerst zu recherchieren, bevor wir jemanden in unseren Publikationen zitieren.« Die Probleme von Sinti und Roma, die bis hin zu ganz konkreter Gewalt reichen, werden dagegen weitgehend ignoriert, hat Gudrun Perko beobachtet.
»Wenn ein schwarzer Mensch von der Polizei in einem lebensgefährlichen Würgegriff gehalten wird, kommt es zu Demonstrationen, in den USA, in Deutschland, überall.« Als einem Roma dasselbe passiert sei, habe es keinerlei empörte Reaktionen gegeben, weder virtuell auf Twitter noch durch Solidaritäts-Kundgebungen auf der Straße.
Kann sich das nicht ändern? Doch, sagen die beiden, im Moment fehle es aber an Interessenvertretungen wie zum Beispiel Studierenden-Organisationen. »Dazu braucht man eben viele Leute, und es werden zwar immer mehr Sinti und Roma, die studieren, aber viele verheimlichen aus Angst, diskriminiert zu werden, ihre Herkunft.« Das werde sich erst in den kommenden Jahren ändern; junge Roma und Sinti wiederum seien politisch sehr aktiv, haben eine Stimme, viele seien gut ausgebildet und begehrten auf.
Personal Bis es so weit ist, müsse das Bewusstsein unter anderem beim Personal in den Schulen geschärft werden. Schon in dem von Perko herausgegebenen Buch Antisemitismus in der Schule – Handlungsmöglichkeiten der Schulsozialarbeit hatte sich in Interviews mit Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeitern ein »erschreckendes Bild« geboten.
Dazu habe nicht nur großes Unwissen über Antisemitismus gehört, sondern auch die Reaktionen auf antisemitische Vorfälle an der Schule: »Da wird dann oft Täterarbeit gemacht, während Opfern nahegelegt wird, die Schulen zu verlassen, manchmal verbunden mit antisemitischen Aussagen wie: Sie sollten halt auf eine Privatschule gehen, Juden seien ja eh reich.«
Diskriminierungen gegen die Minderheit werden weitgehend ignoriert.
Ähnlich werde auch Diskriminierung von Sinti und Roma nicht wahrgenommen: »Es gibt kein Wissen, kein Wahrnehmen, und wer es wahrnimmt, kehrt es oftmals unter den Tisch«, sagen die beiden Expertinnen. So schwierig dürfte es aber eigentlich nicht sein, Menschen in pädagogischer Ausbildung beizubringen, dass Minderheiten nicht diskriminiert werden. »Ist es aber«, seufzt Czollek.
curriculum Was Soziale Arbeit anbelangt, geht es in der Ausbildung »sehr wenig um Minderheiten und Diskriminierung«, weiß Perko. Sie sagt: »Es ist nicht im Curriculum verankert, sondern kommt meist nur dann vor, wenn einzelne Lehrende sagen, das ist für mich ein wichtiges Thema.
Czollek fügt hinzu: »Es könnte zum Beispiel Stipendien für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus Romafamilien geben, sodass sie zur Schule und Hochschule gehen können und es eben aufhört, dass es Lehrkäften und Ämtern egal ist, ob Sinti- und Roma-Kinder an Bildung teilhaben können.«
Leah Carola Czollek und Gudrun Perko: »Antiromaismus und Antisintiismus. Diskriminierungsrealitäten und Handlungsempfehlungen – Expert:innen im Gespräch«. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2023, 154 S., 26 €