In ihrer Biografie spiegelt sich die deutsch-jüdische Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Geboren in eine bürgerliche jüdische Familie, die man damals wohl der sogenannten Neo-Orthodoxie zurechnete, genoss Miriam Gillis-Carlebach, wie ihre acht Geschwister, die Vorzüge einer urbanen Erziehung. Religiöse Gesetzestreue verknüpfte sich darin mit einer Begeisterung für die europäische Bildung und Kultur.
Die Eltern, Lotte und Joseph Carlebach, führten ein offenes Haus, in dem zahlreiche Gäste ein- und ausgingen. Nach Hamburg waren die Carlebachs 1921 gekommen, als Miriams Vater die Leitung der Talmud-Tora-Realschule im Grindelviertel übertragen wurde.
Oberrabbiner Seit 1925 lebte die Familie im benachbarten Altona, wo Rabbiner Joseph Carlebach fortan als religiöses Oberhaupt der Hochdeutschen Israelitengemeinde amtierte. 1936 zog die Familie ein weiteres Mal nach Hamburg, als der orthodoxe Synagogenverband der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Joseph Carlebach zum Oberrabbiner berief.
Von dem, was zuweilen als »deutsch-jüdische Symbiose« idealisiert wird, war mehr als drei Jahre nach der Machtergreifung nichts mehr geblieben. Wie alle Juden in Deutschland war auch die Familie Carlebach mit einer Realität konfrontiert, in der rassistische Ausgrenzung zum Alltag gehörte und die Lebensräume zunehmend von Obrigkeit und Umwelt beschnitten wurden.
Ihre Eltern sowie ihre Schwestern Ruth, Noemi und Sara sollte Miriam nie wiedersehen.
Die 16-jährige Miriam, glühende Zionistin, verließ Deutschland wenige Monate vor der Pogromnacht als Pionierin in Richtung Palästina. Ihre Eltern jedoch sowie ihre Schwestern Ruth, Noemi und Sara sollte Miriam nie wiedersehen. Sie wurden am 26. März 1942 im Hochwald bei Riga auf deutschen Befehl von lettischen Hilfstruppen ermordet.
Forschung Zur Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte gelangte Miriam Carlebach erst über Umwege. Nach dem Abitur begann sie ein Studium der Erziehungswissenschaften, das sie 1984 mit der Promotion abschloss. Seit den 70er-Jahren widmete Miriam Gillis-Carlebach ihre Forschung auch dem deutsch-jüdischen Kulturerbe.
Besonders machte sie sich um die Bewahrung der Erinnerung an die wissenschaftliche und publizistische Arbeit ihres berühmten Vaters verdient, indem sie dessen wichtigste Schriften herausgab. 1992 gelang es ihr, an der Bar-Ilan-Universität das Joseph-Carlebach-Institut zu gründen, das seitdem dieser Beschäftigung eine institutionelle Heimat bietet.
Seit den 80er-Jahren reiste Miriam Gillis-Carlebach immer wieder nach Hamburg.
Aber auch ihrer Mutter wusste Gillis-Carlebach ein Denkmal zu setzen: Ihre Familienchronik aus der Perspektive auf Lotte Carlebach – das Buch trägt den Titel Jedes Kind ist mein Einziges – entwickelte sich zu einem Bestseller.
Seit den 80er-Jahren reiste Miriam Gillis-Carlebach immer wieder nach Hamburg, um Kontakte zu knüpfen und das Gespräch zu suchen. Wie schwer es ihr gefallen sein muss, das Land der Mörder ihrer Familie aufzusuchen, ist kaum einzuschätzen.
Versöhnung Dennoch war es ihr ein intensives Bedürfnis, wieder Fäden des Miteinanders, des Vertrauens und der Versöhnung zu knüpfen. Aus der engen Zusammenarbeit des Joseph-Carlebach-Instituts mit der Universität Hamburg seit den frühen 90er-Jahren ist eine Tradition erwachsen, von der auch Dokumentationen gemeinsamer wissenschaftlicher Konferenzen beredtes Zeugnis ablegen.
All die Auszeichnungen konnten den erlittenen Verlust nicht ersetzen.
Miriam Gillis-Carlebach ist allen, die mit ihr zusammentrafen, als außergewöhnliche Persönlichkeit in lebendiger Erinnerung geblieben. Ihr unermüdliches Engagement und ihre Beharrlichkeit, die sie mit ethischer Verantwortung und Warmherzigkeit verband, waren eine Inspiration für alle, die das Privileg hatten, ihr zu begegnen. Wenige Tage vor Vollendung ihres 98. Lebensjahres, am 28. Januar, ist Miriam Gillis-Carlebach in Petach Tikwa im Kreise ihrer Familie friedlich eingeschlafen.
Öffentliche Wertschätzung und Anerkennung hat Miriam Gillis-Carlebach in Deutschland in vielfältiger Weise erhalten. Doch machen wir uns nichts vor: All diese Auszeichnungen konnten den erlittenen Verlust nicht ersetzen. Aber Miriam Gillis-Carlebachs Wirken war auch auf die Zukunft gerichtet. Es liegt an uns, dieses Vermächtnis zu bewahren.
Der Autor ist stellvertrender Direktor des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg und Co-Sprecher des Joseph Carlebach-Arbeitskreises an der Universität Hamburg.