Ratgeber

Bessere Zeiten selbst gemacht

In seinem neuen Buch zeigt der Autor Arye Sharuz Shalicar, wie man Perspektivlosigkeit entkommen kann

von Ralf Balke  25.11.2021 08:34 Uhr

Politikberater, Schriftsteller und Vater: Arye Sharuz Shalicar (44) Foto: © Uwe Steinert

In seinem neuen Buch zeigt der Autor Arye Sharuz Shalicar, wie man Perspektivlosigkeit entkommen kann

von Ralf Balke  25.11.2021 08:34 Uhr

Es gibt Biografien, die kann man sich nicht einfach ausdenken, weil sie so voller überraschender Wendungen und Brüche stecken. Die von Arye Sharuz Shalicar ist genau so eine.

Die alte Karriereformel »Vom Tellerwäscher zum Millionär« hieße dann bei ihm wohl »Vom kleinkriminellen Graffitisprüher zum Politikberater«. Denn aufgewachsen ist der deutsch-israelische Publizist und Politologe mit persisch-jüdischen Wurzeln in Berlin. Genauer gesagt: Er verbrachte seine Jugend im Problemkiez Wedding, und zwar bei diversen kurdisch-libanesisch-türkischen Gangs.

AUSSTIEG Mit einem Bein stand Shalicar dabei immer im Gefängnis. Dass er trotzdem die Kurve kriegte und aus der Spirale von Gewalt, Kriminalität und anderer Dummheiten irgendwie den Ausstieg schaffte, verdankte er seinem damals besten Freund Sebie, der gerade frisch aus dem Knast kam.

Dieser überzeugte ihn davon, an einem geplanten Raubüberfall auf einen Juwelier besser nicht teilzunehmen. Das Argument des Kumpels: Aus dem juvenilen Arye könnte ja doch einmal etwas werden. Also sollte er sich seine Zukunft nicht verbauen. Das brachte Shalicar ins Grübeln. »Ich folgte seinem Rat«, schreibt der heute 44-jährige Vater zweier Kinder, der seit nunmehr 20 Jahren in Israel lebt. Für diese Intervention ist er dem Weggefährten von einst auf ewig dankbar, weshalb er ihm auch sein neuestes Buch widmet.

Es geht reichlich ungeschminkt und ruppig zu. Der Wedding lässt grüßen!


Es beinhaltet 100 Weisheiten, wie man aus einem Umfeld, das vor allem Heranwachsende eher herunterzieht als fördert, entfliehen kann, wenn man denn sein Leben in den Griff bekommt, und zwar so wie Shalicar. »Es gibt einen Tag danach. Wenn du nur willst«, schreibt er im Vorwort dazu. »Es ist möglich. Ich bin der Beweis dafür.« In zehn Kapiteln mit Überschriften wie »Das Leben ist kein Rosinenbrötchen«, »Sei neugierig, aber nicht gierig!« oder »Mauern bauen, wenn es sein muss« gibt er kurze und griffige Ratschläge, die zumeist stark biografisch gefärbt sind.

authentizität Das verleiht dem Ganzen eine ordentliche Portion »Street Credibility« oder vulgo Glaubwürdigkeit und Authentizität. »Wer weiß, vielleicht würde ich bis heute bei McDonald’s in der Küche stehen oder mich bis heute im kriminellen Milieu herumtreiben, weil ich keine anderen gescheiten Optionen auf dem Radar gehabt hätte?«, fragt er. »Wer will schon einen ehemaligen Gangster einstellen? Noch dazu einen mit Migrationshintergrund. Und zu allem Übel auch noch Jude.«

Zugleich behauptet Shalicar nicht, dass man seine Vergangenheit einfach nur vergessen muss, und dann sei alles in Butter. Denn egal, wie übel einem mitgespielt wurde, so bekommt man immerhin eine Antenne für manche Situationen und Menschen, die andere, die in wohlbehüteteren Verhältnis aufwuchsen, eben nicht haben. Kurzum: »Straßenerfahrung« kann auch ein Asset sein, ist also »Gold wert«.

»Doch ich tue mich ziemlich schwer, meine Jugendjahre hinter mir zu lassen, denn sie haben mich wesentlich beeinflusst – zum Guten und nicht zum Schlechten. Das Gute ist nämlich, dass ich eine andere Art der Menschenkenntnis und der Welt an sich mit in den Alltag bringe, ob im Büro, bei Vorträgen vor Publikum oder wenn ich abends vor dem Schlafengehen meinem neunjährigen Sohn die Welt erkläre«, schreibt Shalicar.

TIKKUN OLAM Seine eigene Motivation, das Buch zu verfassen, findet sich in dem Kapitel »Tikkun Olam«. Shalicar vertritt darin die Auffassung, dass man sich nicht nur um sein eigenes Leben kümmern sollte, sondern ebenfalls auf das direkte oder indirekte Umfeld einwirken muss, um »die Welt zu verbessern«.

Shalicars Begründung klingt so simpel wie einleuchtend: »Wenn sich nämlich jeder nur um das kümmert, was in den eigenen vier Wänden passiert, dann können draußen vollkommen ungehindert problematische und menschenverachtende Entwicklungen stattfinden.« Auch sei es wichtig, keinesfalls nur einen Plan B, sondern darüber hinaus immer auch einen Plan C parat zu haben. Gerade die Pandemie hätte ihn genau das gelehrt. »Also, rüste dich auf mit zwei Schubladenplänen – in der Hoffnung, dass es nie einen Grund geben wird, sie auszupacken.«

Eines der Dinge, die Shalicar halfen, sein Leben in den Griff zu bekommen, war der Wunsch, vor rund zehn Jahren seine Autobiografie zu Papier zu bringen.

Eines der Dinge, die Shalicar halfen, sein Leben in den Griff zu bekommen, war der Wunsch, vor rund zehn Jahren seine Autobiografie zu Papier zu bringen. Er wollte damit eine Art Schlussstrich unter seine Vergangenheit ziehen, merkte aber bald, dass es so einfach nicht funktioniert.

brüche Vielmehr verhalf ihm das Schreiben, zu seiner eigenen Geschichte mit all ihren Facetten und Brüchen eine reflektiertere und damit auch positivere Einstellung zu entwickeln – auch das eine Erfahrung, die Shalicar gerne weitergeben möchte.

Überhaupt spiegeln sich seine Jugenderfahrungen mit allen Höhen und Tiefen in der Diktion des Ratgebers wider, was diesen dann auch von den unzähligen anderen Büchern aus diesem Genre unterscheidet.

Es geht reichlich ungeschminkt und ruppig zu – der Wedding lässt grüßen! Und unweigerlich denkt man bei der Lektüre von 100 Weisheiten, um das Leben zu meistern. Selbst wenn du aus dem Ghetto stammst ebenfalls an eine Textzeile aus einem Lied der alten Punk-Combo Family 5, die wie eine Zusammenfassung des Buches klingen könnte: »Wir warten nicht auf bessere Zeiten, die machen wir uns selbst.«

Arye Sharuz Shalicar: »100 Weisheiten, um das Leben zu meistern. Selbst wenn du aus dem Ghetto stammst«. Finanzbuch, München 2021, 256 S., 14,99 €

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  14.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

Krefeld

Gütliche Einigung über Campendonk-Gemälde

An der Einigung waren den Angaben nach die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), das Land NRW und die Kulturstiftung der Länder beteiligt

 13.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Mascha Kaléko

Großstadtdichterin mit sprühendem Witz

In den 20er-Jahren war Mascha Kaléko ein Star in Berlin. Die Nazis trieben sie ins Exil. Rund um ihren 50. Todestag erleben die Werke der jüdischen Dichterin eine Renaissance

von Christoph Arens  13.01.2025

Film

»Dude, wir sind Juden in einem Zug in Polen«

Bei den Oscar-Nominierungen darf man mit »A Real Pain« rechnen: Es handelt sich um eine Tragikomödie über das Erbe des Holocaust. Jesse Eisenberg und Kieran Culkin laufen zur Höchstform auf

von Lisa Forster  13.01.2025

Sehen!

»Shikun«

In Amos Gitais neuem Film bebt der geschichtsträchtige Beton zwischen gestern und heute

von Jens Balkenborg  12.01.2025

Omanut Zwillenberg-Förderpreis

Elianna Renner erhält Auszeichnung für jüdische Kunst

Die Schweizerin wird für ihre intensive Auseinandersetzung mit Geschichte, Biografie und Politik geehrt

 12.01.2025