Dir weist das Meer den Weg ins Licht/ Mich führt es heim.» Das letzte Lebenszeichen des Schriftstellers Leonard Weinheber ist ein kleines Gedicht. Kurz nachdem er es aufschrieb, verliert sich seine Spur auf dem Mittelmeer – um rund 75 Jahre später in Berlin wieder aufgenommen zu werden.
Mit Weinhebers Koffer hat Michel Bergmann eine unterhaltsame Fährtenlese mit tragischem Unterton vorgelegt. In Bruchstücken erzählt er vom jüdischen Leben in den 20er- und 30er-Jahren in Deutschland, schildert den Aufbau des Staates Israel und gewährt Einblicke in die insbesondere deutsche Diskussionslage um und die Mentalität gegenüber dem Judentum in der Gegenwart. Eine rührende Liebesgeschichte bietet das Buch obendrein.
TRödler Alles beginnt bei einem Trödler. Der jüdische Journalist Elias Ehrenwerth stolpert auf der Suche nach einem besonderen Geschenk über einen Lederkoffer mit den Initialen «L.W.» – die gleichen, die auch seine Liebste hat.
Bald schon macht Ehrenwerth den Vorbesitzer des Gepäckstücks ausfindig, den Autor Leonard Weinheber. Der, ein assimilierter deutscher Jude, war von den Nazis mit Berufsverbot belegt und vielerlei Schikanen ausgesetzt worden, bis er schließlich nach den Novemberpogromen keinen anderen Weg sah, als Deutschland zu verlassen.
Anfang 1939 schiffte Weinheber gen Palästina aus. Ehrenwerth folgt seiner Spur, grast mögliche Zeitzeugen und Kontakte in Berlin ab, um dann in Israel die Archive zu durchstöbern und Menschen zu treffen, die Weinheber kannten.
Briefwechsel Diese zahlreichen Begegnungen machen den Reiz des Buches aus. Denn Bergmann vermischt geschickt zwei Zeitebenen. Sein Held Elias Ehrenwerth trifft in Israel und Deutschland nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf die Gegenwart beider Länder und ihrer Menschen. Die Vergangenheit blitzt durch eingefügte Briefwechsel und Erinnerungen auf, wobei gerade die Dokumente Lebendigkeit erzeugen.
Indem er wesentliche Kapitel aus Weinhebers Roman, den kein Verlag nach Hitlers Machtübernahme mehr veröffentlichen wollte, zitiert, zeichnet Bergmann zugleich ein Bild der 20er-Jahre, die alles andere als frei von Antisemitismus waren. Weinhebers unveröffentlichtes Buch handelt von einem jungen Anwalt in Berlin, der sich für die weitgehend rechtlosen Ostjuden einsetzt und eine verzweifelte Familie vertritt, deren kleines Geschäft beim Scheunenviertelpogrom 1923 zerstört wurde.
Schiffspassage Auch die Zerrissenheit vieler assimilierter deutscher Juden klingt bei Bergmann an, die schwere Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen. Gut drückt das ein Gespräch auf der Schiffspassage übers Mittelmeer aus. Während Weinheber wehmütig an das «Land der großen Geister», wie er es nennt, denkt und den Gang ins Ungewisse scheut, zeigt sich eine junge Frau gerade über dieses Ungewisse ausgelassen froh, weil es ihr Hoffnung auf ein Leben ohne Ausgrenzung und Verfolgung gibt.
«Ich bin jung genug, um dieses ekelhafte Land hinter mir zu lassen. Für mich ist es versunken, im Meer! Im Meer des Vergessens. Wie ein Piratenschiff mit schrecklichen, verlorenen Kreaturen.»
befindlichkeiten Schnörkellos, mal feinsinnig ironisch, mal mit derbem Zuschnitt, hat Michel Bergmann seine Geschichte aufgeschrieben. Vor allem die deutschen Befindlichkeiten von heute nimmt er mit bissigen Kommentaren aufs Korn. «So kam, wie bei jeder kultivierten deutschen Geselligkeit, der Holocaust auf die Tagesordnung.» Aber nur kurz, denn «dann wurde die zweite Stufe gezündet: Israel!».
Novellenartig angeschnitten, nicht ausgewalzt, gestaltet sich der Roman. Die Konzentration aufs Geschehen statt umfänglicher Umgebungsbeschreibungen oder Figurencharakterisierung machen ihn zur flüssigen Lektüre, die mit den lakonischen bis bissigen Kommentaren des Ich-Erzählers obendrein eine angenehme Spur Subjektivität enthält.
Michel Bergmann: «Weinhebers Koffer». Roman. Dörlemann, Zürich 2015, 144 S., 16,90 €