Ich bin mit der Zuversicht aufgewachsen, dass im Leben alles machbar ist. Egal ob man 20 Pfund abnehmen will, ein Autogramm von Angela Merkel bekommen möchte oder Goethes Faust einmal durchzulesen versucht: Mit eisernem Willen schafft man das alles und noch viel mehr. Selbst Peinlichkeiten sind kein Hindernis. Als ich an der Pädagogischen Hochschule das Pflichtfach »Sport und Bewegung« belegte, musste ich dort einmal zu einem bescheuerten Whitney-Houston-Lied vortanzen. Ich habe zu Hause jeden Morgen vor dem Spiegel geprobt und bei der Prüfung eine gute Note bekommen.
Seit einigen Wochen aber wankt mein Axiom. Es gibt da nämlich ein Online-Spiel im Internet, es heißt »Onslaught 2«, und bei dem breche ich langsam zusammen. Das Spiel geht so: Man muss mit verschiedenen Verteidigungswaffen in jeder Runde zwanzig Gegner vernichten. Die Feinde werden aber immer stärker und irgendwann hat man verloren. Bis Level 127 hatte ich es geschafft, bevor ich nicht mehr weiterkam. Die Feinde überrannten meine Verteidigungstürme.
online-spiel Ich weiß, ich sollte die Finger von solchem Blödsinn lassen. Ich bin immerhin Familienvater, Lehrer, Brillen- und Glatzenträger. Aber kampflos Aufgeben ist nicht meine Sache. Tagelang tüftelte ich wie besessen an einer erfolgreichen Strategie, um Level 128 zu erreichen. Ich ging spät ins Bett, spielte in der Mittagspause, vernachlässigte meine Körperhygiene, rastete aus, wenn die Kinder abends nicht einschlafen wollten und mich am Spielen hinderten. Ich bekam nicht einmal mit, dass meine Frau ihre Beine rasiert hatte.
Besondern schlimm war der Schabbat. Ich durfte den ganzen Tag lang nicht spielen. In Gedanken aber war ich bei »Onslaught 2«. In der Synagoge verpasste ich deshalb fast meinen Einsatz beim Tora-Lesen. Der Vorbeter wollte wissen, wen ich zu segnen wünschte. Die ehrliche Antwort wäre gewesen: meine Verteidigungstürme. Gesagt habe ich das natürlich nicht. Wie immer ließ ich Rabbi, Frau, Kind, Kind, Vati, Mutti, Bruder, Bruder, Schwester durchsegnen.
Als ich zurück an meinen Platz ging, bemerkte ich einen Jungen zwei Reihen hinter mir. Ich sehe ihn jeden Tag in der Straßenbahn. Er beschäftigt sich dort die ganze Zeit mit einer kleinen Spielkonsole. »Du, kannst du mir weiterhelfen?«, fragte ich ihn: »Ich schaff’ bei Onslaught 2 das Level 127 einfach nicht.« »Klicken Sie sich ins Forum hinein«, sprach der Kleine mit der Weisheit eines Jedi. Natürlich, dachte ich mir, das ist die Lösung! Irgendein Mitspieler wird schon weiterwissen. Und so war es auch. Inzwischen bin ich bei Level 139 angelangt. Das Leben ist wieder schön und die Vöglein zwitschern. Ein bisschen laut, finde ich. Ich kann mich nicht auf das Spiel konzentrieren und komme schon wieder nicht weiter!