Finale

Benis Welt

Vorigen Sonntag war ich nach langen Jahren wieder einmal in der Oper. Ich bin kein Kulturbanause, wirklich nicht. Aber im Opernhaus kam ich mir wie ein Jude vor, der nur einmal im Jahr in die Synagoge geht – sprich, ziemlich orientierungslos. Ich saß in meinem Schabbatanzug auf einem billigen Platz und wusste nicht, wann geklatscht werden musste, wo es sich ziemte, zu lachen und was man grundsätzlich vom Gebotenen halten sollte. Dabei stand auf dem Programm Mozarts Zauberflöte, nicht gerade das anspruchsvollste Werk der Musikgeschichte. Einige Arien aus dieser Oper sind – darf man das eigentlich sagen? – echte Schlager, die ich gelegentlich gerne auf der Toilette nachträllere.

Leider bekam ich von meinem billigen Platz aus wenig von Mozarts Meisterwerk mit. Wenn Papageno sprach, verstand ich kaum etwas. Laut Textbuch redete er über die Liebe. Ich finde, in der Oper sollte nicht geredet werden, sondern lieber gesungen. Anschließend kam der lange Dialog zwischen Papageno und Tamina. Ich fühlte mich unwohl. Und damit war ich offenbar nicht allein. Es war schon ziemlich spät, die Aufführung würde etwa um elf Uhr enden. Ein paar Zuschauer blätterten lustlos im gelben Reclam-Textbuch, andere kämpften mit der nächtlichen Müdigkeit. Auch ich hatte langsam genug. Das unverständliche Genuschel, die schlechte Luft, meine sich allmählich füllende Blase: Es war wie ein überlanger Gottesdienst in der Synagoge. Nur die Musik war lauter.

Applaus Ich fiel in eine Art Koma. In diesem Zustand begann ich zu sinnieren. Ist das Judentum nicht auch eigentlich eine Oper? Jeden Morgen singen wir immer die gleichen Lieder zu Gott. Manche von uns sind Papageno, andere wären gerne die Königin der Nacht. Überhaupt, drehten sich meine Gedanken weiter, ist das Leben selbst ein Singspiel. Mal muss man lachen, mal weinen. An manchen Stellen ist Applaus gefordert. Nur wenige haben gute Plätze, von denen aus man alles mitbekommt. Die meisten Menschen müssen hinten sitzen, wo das Wesentliche an ihnen vorbeigeht. Manchmal ist es sehr laut, dann wieder hört man gar nichts. Und so weiter, blablabla.

So ging das die ganze Zauberflöte durch in meinem Kopf. Ich assoziierte wie wild Gedankenfetzen, als läge ich bei einem Psychoanalytiker auf der Couch. Erst am nächsten Tag war ich wieder fähig, klar zu denken. Und dann fiel mir auf, dass meine philosophischen Erkenntnisse aus der Oper eigentlich gar nicht so übel gewesen waren. Mit dem Wort zum Sonntag oder rabbinischen Erklärungen zum Wochenabschnitt konnten sie allemal gut mithalten. Und mich beschlich ein Verdacht: Wahrscheinlich kommen diese theologi- schen Ergüsse auf die gleiche Art zustande wie meine Weisheiten. Die Rabbiner gehen in die Oper, dösen dort halb ein und sinnieren vor sich hin. Das erklärt auch manche Schabbatpredigt, die keinen Sinn zu haben scheint: Wahrscheinlich ist sie während einer Aufführung von Schönberg oder Stockhausen entstanden.

Rezension

Ich-Erzählerin mit böser Wunde

Warum Monika Marons schmaler Band »Die Katze« auch von Verbitterung zeugt

von Katrin Diehl  25.12.2024

Bräuche

»Hauptsache Pferd und Kuh«

Wladimir Kaminer über seine neue Sendung, skurrile Traditionen in Europa und einen Kontinent in der Krise

von Nicole Dreyfus  25.12.2024

Dessau

»Was bleibt«

Am Anhaltinischen Theater setzt Carolin Millner die Geschichte der jüdischen Familie Cohn in Szene

von Joachim Lange  25.12.2024

Kolumne

Aus der Schule des anarchischen Humors in Minsk

»Nackte Kanone« und »Kukly«: Was mich gegen die Vergötzung von Macht und Machthabern immunisierte

von Eugen El  24.12.2024

Rezension

Die Schönheit von David, Josef, Ruth und Esther

Ein Sammelband bietet Einblicke in die queere jüdische Subkultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik

von Sabine Schereck  24.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 19. Dezember bis zum 2. Januar

 23.12.2024

documenta

Retterin aus den USA?

Naomi Beckwith übernimmt die Künstlerische Leitung der Kasseler Schau, die für 2027 geplant ist

von Eugen El  23.12.2024

Kino

Neue Chefin, neues Festival? Das bringt die Berlinale 2025

Tricia Tuttle übernimmt die Leitung des Filmfests, das vergangenes Jahr von einem Antisemitismus-Skandal überschattet wurde

 23.12.2024

Theater

Wenn Schicksale sich reimen

Yael Ronens »Replay« erzählt die Geschichte einer DDR-Familie in Zyklen

von Leonie Ettinger  22.12.2024