Der Tod eines Islamwissenschaftlers und Nahosthistorikers – oder Orientalisten, wie man bis vor 40 Jahren ganz unverfänglich sagte – wird normalerweise außerhalb von Fachkreisen nicht bemerkt. Als am 18. Mai, zwei Wochen vor seinem 102. Geburtstag, der britisch-amerikanische Gelehrte Bernard Lewis verstarb, wurde dies in den Medien Israels und der englischsprachigen Welt an zentraler Stelle vermeldet. Es folgten zahlreiche Nachrufe, und auch in den sozialen Medien war das Echo gewaltig.
Ins Auge fiel dabei, dass fast alle Wortmeldungen entweder von tiefer Verehrung oder Verachtung geprägt waren. Das große Interesse spiegelt wider, dass Lewis sich, anders als die meisten Fachgenossen seiner Generation, an die breitere Öffentlichkeit wandte, statt nur an den kleinen Kreis der Fachkollegen. Die Polarisierung rührt daher, dass die Standpunkte, die er vertrat, der nachfolgenden Generation nicht ins Konzept passten.
Hebräisch Das Interesse an Sprachen führte den in einer jüdischen Mittelklassefamilie in London aufgewachsenen Lewis zur Beschäftigung mit der islamischen Welt. Wie für andere bedeutende jüdische Islamwissenschaftler vor ihm bildete der Hebräischunterricht die Grundlage für seine Beschäftigung mit dem Arabischen. Nach seinem Militärdienst im Zweiten Weltkrieg wandte er sich der Wissenschaft zu. Hatte er sich zunächst mit dem mittelalterlichen Islam beschäftigt, widmete er sich bald neueren Entwicklungen, speziell dem Übergang vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik.
Lange war das auf diesen Studien aufbauende Buch The Emergence of Modern Turkey (1961) ein Standardwerk. Wie viele Studien zum modernen Nahen Osten aus dieser Periode kennzeichnet dieses Werk modernisierungstheoretischer Optimismus: Die islamische Welt schien dem Westen auf dem Wege der Säkularisierung und institutionellen Modernisierung zu folgen. 1974 wechselte Lewis von der Londoner School of Oriental and African Studies nach Princeton (USA).
Islamismus Von Modernisierungsoptimismus rückte Lewis in den 70er-Jahren ab. 1976, drei Jahre vor der Islamischen Revolution im Iran, legte er in einem Artikel für das Monatsmagazin »Commentary« dar, dass für die meisten Muslime der Islam, nicht der Nationalstaat oder säkulare Ideologien, der zentrale politische Bezugspunkt geblieben war. Der Literaturkritiker Edward Said warf ihm deswegen in seinem zwei Jahre später erschienenen Buch Orientalism vor, den »Orientalen« ein unveränderliches Wesen und mangelnde Entwicklungsfähigkeit zuzuschreiben.
Die Entwicklung der folgenden Jahrzehnte zeigte allerdings, dass Lewis die Tendenz richtig erkannt hatte: Der Islamismus drängte den säkularen arabischen Nationalismus, wie ihn Edward Said vertrat, zusehends an den Rand. 1990 griff Lewis dieses Thema in seinem Aufsatz »The Roots of Muslim Rage« wieder auf. Die Radikalisierung vieler Muslime führt er dort auf zwei Gründe zurück: Der eigene Überlegenheitsanspruch kontrastiert mit der realen Machtlosigkeit, und Versuche, durch Anpassung aufzuholen, waren gescheitert. Die Unzufriedenheit hierüber führe zu Aggressivität gegen den Westen, speziell die USA.
Diesen Gedanken arbeitete Bernard Lewis 2002 in dem Buch What went wrong? aus. Hier weist er zudem darauf hin, dass mit dem Aufstieg Asiens eine weitere Demütigung hinzugekommen war. Indem Chinesen und Koreaner zeigten, dass es möglich ist, aufzuholen, führten sie das Versagen der islamischen Welt umso deutlicher vor Augen.
Opferdiskurs Zu einem Opferdiskurs, der alle Probleme des Nahen Ostens dem westlichen Imperialismus zuschreibt, stehen Lewis’ Analysen unverkennbar im Widerspruch. Dabei leugnete er die verheerenden Wirkungen der westlichen Kolonialherrschaft überhaupt nicht. Er hob nur hervor, dass die Kolonialisierung selbst ein Resultat des ökonomischen, politischen und kulturellen Niedergangs gewesen sei. An den amerikanischen Universitäten trat der Opferdiskurs gleichwohl seinen Siegeszug an. Verbunden mit Lewis’ Unterstützung Israels führte dies zu seiner Entfremdung vom Mainstream der Nahostwissenschaft in den USA. Nicht nur das: Er wurde gar des antimuslimischen Rassismus bezichtigt.
Wie falsch der Vorwurf undifferenzierte Feindschaft gegenüber Muslimen ist, zeigt sich in den Büchern, in denen sich Lewis mit dem Verhältnis von Juden und Muslimen beschäftigt. In Die Juden in der islamischen Welt (1984, dt. 1987) zeigt er, dass die Juden in der vormodernen islamischen Welt zwar als »Ungläubige« zahlreichen diskriminierenden Vorschriften unterworfen waren, dass sie jedoch fast nie Verfolgungen ausgesetzt waren, wie sie die Juden des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa wiederholt erlitten.
Wirklicher Antisemitismus, so zeigt er in Semites and Anti-Semites (1986), war dagegen ein europäischer Ideologieimport aus dem 19. Jahrhundert. Dass dieser Import jedoch bereitwillig angenommen wurde, habe fatale Auswirkungen für die arabische Welt selbst. Die Fixierung auf Israel verhindere eine rationale Auseinandersetzung mit den Problemen der eigenen Gesellschaften.
Der Autor ist Islamwissenschaftler und Dozent an der Universität Aarhus (Dänemark).