Sachbuch

Bekämpfung des Antisemitismus als Verfassungsziel?

Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn sucht nach effektiven Möglichkeiten der Bekämpfung von Judenhass

von Gerhard Haase-Hindenberg  23.05.2024 09:21 Uhr

Samuel Salzborn Foto: Chris Hartung

Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn sucht nach effektiven Möglichkeiten der Bekämpfung von Judenhass

von Gerhard Haase-Hindenberg  23.05.2024 09:21 Uhr

Der Titel stellt die Frage nach der Wehrhaftigkeit der Demokratie, der Untertitel warnt vor deren expliziter Bedrohung durch Antisemitismus. Zu beidem hat Samuel Salzborn ausführlich recherchiert. Eingeleitet wird das neue Buch des Berliner Antisemitismusbeauftragten mit einem Zitat des jüdisch-deutschen Staats- und Verfassungsrechtlers Karl Loewenstein, der 1937 im Exil rückblickend auf die Zerstörung der Weimarer Demokratie durch ihre eigenen Mechanismen verwiesen hat.

Zitiert wird aber auch der umstrittene Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt, der die Auseinandersetzung zwischen Antisemiten und Juden jener Jahre als »rechtswissenschaftlichen Formelstreit« abtat. Ei­ne fatale Fehleinschätzung.

In Salzborns 13 Seiten langem Quellenverzeichnis findet sich der Hinweis auf das Buch Wie Demokratien sterben von Daniel Ziblatt und Steven Levitsky. Darin konstatieren die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler eine internationale Tendenz der Entdemokratisierung. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder wird zitiert, der davor warnt, dem Autoritarismus »keinen vorauseilenden Gehorsam« zu leisten. Eine Tendenz, wie sie hierzulande angesichts der Stärke der AfD bei demokratischen Parteien auftaucht.

Den Kampf gegen den Antisemitismus bezeichnet Salzborn als »Lackmustest« der bundesdeutschen Demokratie.

Den Kampf gegen den Antisemitismus bezeichnet Salzborn als »Lackmustest« der bundesdeutschen Demokratie und zwar gleichermaßen »aus historischen und aus systematischen Gründen«. An anderer Stelle verweist er darauf, dass sich »die Artikulationsformen des Antisemitismus seit Verfassungsgebung« fundamental ge­ändert haben. In der Tat ist dies ein Aspekt, der bislang im öffentlichen Diskurs zu wenig Beachtung findet.

Dabei haben der Historiker Werner Bergmann und der Soziologe Rainer Erb, die Salzborn zitiert, bereits Mitte der 80er-Jahre nachgewiesen, dass Antisemitismus zunehmend über »Umwege« kommuniziert wird. Längst, so auch Salzborn, würden in allen politischen Milieus antisemitische Codes und Chiffren verwendet, die strafrechtliche Sanktionierungen zu umgehen versuchen: »Vernebelungsstrategien«, so Salzborn.

Antisemitismus als »globale Integrationsideologie«

Zudem habe sich der Antisemitismus als »globale Integrationsideologie« etabliert. Salzborn nennt Beispiele. Der moderne Antisemitismus zeichne sich durch die »Unfähigkeit und Unwilligkeit (aus), abstrakt zu denken und konkret zu fühlen«. Hierbei zitiert Salzborn sich selbst – aus dem vor 14 Jahren erschienenen Aufsatz »Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne«.

Als Antwort auf die Frage nach der »wehrlosen Demokratie« verweist Salzborn darauf, dass der »Gedanke der Wehrhaftigkeit als dialektisches Moment zum Freiheits- und Emanzipationsversprechen« bereits im ideengeschichtlichen Fundament der Moderne begründet liegt.

Schließlich könne ein friedliches System wie die Demokratie nur friedlich sein und bleiben, »wenn es sich mit allen Optionen legitimierter Gewalt« gegen seine Feinde wehre. Dieser Exkurs einer kritischen Gesellschaftsanalyse gehört zum stärksten Teil des Buches.
Im letzten Kapitel »Antisemitismus und Demokratie: Zwischen Wehrhaftigkeit und Wehrlosigkeit« kommt Ex-Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm zu Wort, der für eine Verfassung als rechtsförmiges Dokument plädiert, »wie die Staatsgewalt eingerichtet und ausgeübt werden sollte«.

Dieses vorgeschlagene Verfahren scheint, so meint Salzborn zu Recht, den »bereits begonnenen Weg der expliziten verfassungsnormativen Verankerung des Kampfes gegen Antisemitismus (…) zur Staatszielbestimmung auf Ebene der bundesdeutschen und der Länderverfassungen zu machen, zu verbreitern und zu vertiefen«. Falls sich das nun 75-jährige Grundgesetz durch die Aufnahme eines expliziten Verbots von Antisemitismus auch in dieser Hinsicht als wehrhaft erweisen sollte – was ja noch keineswegs als ausgemacht gilt. Das Buch gibt diesbezüglich zumindest einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand.

Samuel Salzborn: »Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung«. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024, 144 S., 17 €

Theater

Wenn Schicksale sich reimen

Yael Ronens »Replay« erzählt die Geschichte einer DDR-Familie in Zyklen

von Leonie Ettinger  22.12.2024

Gute Vorsätze

100 Prozent Planerfüllung

Warum unsere Redakteurin 2025 pünktlicher sein will als die Deutsche Bahn

von Katrin Richter  22.12.2024

Meinung

Eine Replik von Eva Menasse auf Lorenz S. Beckhardts Text »Der PEN Berlin und die Feinde Israels«

von Eva Menasse  21.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  19.12.2024

TV-Tipp

»Oliver Twist«: Herausragende Dickens-Verfilmung von Roman Polanski

Sittengemälde als düstere Bestandsaufnahme über die geschilderte Zeitperiode hinaus

von Jan Lehr  19.12.2024

Literatur

Gefeierter Romancier und politischer Autor: 150 Jahre Thomas Mann

Seine Romane prägten eine Epoche und werden noch heute weltweit gelesen. Zugleich war Thomas Mann auch ein politischer Autor, woran im Jubiläumsjahr 2025 zahlreiche Publikationen erinnern

von Klaus Blume  19.12.2024

Glosse

Kniefall 2.0

Ist Markus Söder jetzt alles Wurst oder erfüllt er nur die Erwartungen der jüdischen Gemeinschaft?

von Michael Thaidigsmann  19.12.2024

Aufgegabelt

Einstein-Lachs-Tatar

Rezept der Woche

 19.12.2024