Interview

»Bei mir kreist alles um die Herkunftsgeschichte«

Barbara Honigmann Foto: picture alliance / Presse- und Wirtschaftsdienst

Frau Honigmann, beim Lesen und Wiederlesen Ihrer Werke – der erzählerischen und der essayistischen – kamen Sie mir vor wie ein großer Lebensroman, zu dem die einzelnen Bücher Bausteine sind. Stimmt dieser Eindruck?
Da ist sicher etwas dran. Man bewegt sich doch immer im selben Kreis, manchmal mehr im Zentrum, manchmal mehr an der Peripherie. Ich gehöre nicht zu den Schriftstellerinnen, die sich etwas ausdenken. »Er liebt sie, aber sie liebt ihn nicht« – bei allem Respekt vor solchen Romanen. Bei mir kreist alles um die Herkunftsgeschichte, eben das, was man heute Autofiktion nennt.

Über Eltern haben Sie vor allem in »Georg« und »Ein Kapitel aus meinem Leben« geschrieben: jüdische Kommunisten, die aus der Westemigration in die sowjetische Besatzungszone zurückkehrten. War das auch eine Entscheidung über ihr Leben?
Ja, ich habe es bis heute nicht verstanden, dass Juden wieder nach Deutschland gingen. Dahinter stand sicher ein strikter Parteiauftrag, den meine Eltern im Londoner Exil erhalten hatten. Sie sollten helfen, das sozialistische Deutschland aufzubauen. Mein Vater, der ehemalige Odenwaldschüler, war ein kultivierter, deutsch-jüdischer Bildungsbürger. Seine Liebe zur deutschen Sprache war sicher auch ein Grund. Ihre Anpassung hat nicht wirklich genutzt, das Misstrauen ihnen gegenüber blieb immer. Bei den Westemigranten argwöhnte man zu Recht, dass sie mit freiheitlichen Ideen in Berührung gekommen waren, mit westlicher Kultur. Es war mir von Anfang an klar, dass wir Juden sind. Die anderen – das waren die Deutschen. Auf diesen Gegensatz beschränkte sich allerdings das Jüdische, sonst gab es nichts Traditionelles und schon gar nichts Religiöses in unserer Familie.

Sie haben das einmal Ihren eigentlichen Schreibantrieb genannt: das deutsch-jüdische Verhältnis, dieses Nicht-voneinander-lassen-können. Heute werden Sie als eine der wichtigsten deutsch-jüdischen Autorinnen wahrgenommen …
Das ist wirklich mein Thema geworden, diese Doppelexistenz. Durch meinen Vater bin ich in die literarische Welt hineingekommen. Ich besitze wunderbare Briefe von ihm, witzig, geistreich. Er hätte auch Schriftsteller werden können, tat es aber nicht. Vielleicht schreibe ich das, was er nicht geschrieben hat. Ich habe heute kein Problem damit, als deutsch-jüdische Schriftstellerin gesehen zu werden, im Gegenteil, denn ich schreibe auf Deutsch über jüdische Themen. Elena Biller-Lappin, die Schwester von Maxim Biller, hat 1994 eine Anthologie mit dem schönen Titel »Jewish Voices, German Words« herausgegeben. Das trifft genau auf mich zu. Sehr viele deutsche Juden gibt es ja nicht mehr. Darum war am Anfang meines Schreibens, schon beim ersten Buch »Roman von einem Kinde« 1986, das Erstaunen groß, dass es überhaupt noch eine deutsche, jüdische Literatur gibt. Inzwischen hat sich das zum Glück geändert, wir haben viele junge jüdische Autoren, darunter viele aus der ehemaligen Sowjetunion, die auf Deutsch schreiben.

Haben Sie sich Ihr Judentum in der DDR gewissermaßen selbst erobert, in einer Gruppe von Freunden wie Thomas Brasch und dem späteren Filmregisseur Peter Kahane, deren Familien ähnliche Emigrationserfahrungen hatten wie Ihre?
Das war eine Gruppe von Menschen aus der Zweiten Generation wie ich, angehende Künstler aus Westemigranten-Familien. Das Jüdische war in unserem Bewusstsein immer da, hatte aber keinen wirklichen Inhalt. Mitte und Ende der 70er-Jahre, als wir erwachsen wurden, gab es überall auf der Welt bei vielen oder wenigstens einigen Juden unserer Generation das Gefühl einer Leerstelle. Alain Finkielkrauts Buch »Der eingebildete Jude« hatte einen großen Einfluss auf mich. Er hat dieses Unwohlsein unter der Last des Jüdischseins genau beschrieben. Das Judentum sei nicht das, was mich definiere, sondern das, was mir fehle, hat er geschrieben. Mit meinem späteren Mann Peter, den ich in der Synagoge kennenlernte, habe ich mich dann, anders als meine Freunde, aktiv dem Judentum zugewandt, um diese verborgene Seite zu entdecken. Mich hat das sehr angezogen, ich schrieb mich in die jüdische Gemeinde ein. Ein Freund nannte das einmal sehr treffend meinen »religious turn«.

Sie sind 1984 mit Ihrem Mann und den beiden Söhnen nach Straßburg ausgereist. Warum ging es dorthin?
Straßburg ist nah an Deutschland, an das wir weiter gebunden waren. Ich durch meine Bücher und mein Mann durch seine Arbeit, er hat viele Jahre das Heidelberger Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland geleitet und musste pendeln. Straßburg ist ein besonderer Ort auf der jüdischen Weltkarte, halb aschkenasisch, halb sefardisch, mit einem hohen intellektuellen Niveau. Wir fühlten uns von dieser großen Gemeinde sehr angezogen.

In »Chronik meiner Straße«, einem Ihrer schönsten Bücher, haben Sie Ihr Leben in Straßburg, das friedliche Zusammensein der Kulturen und Religionen beschrieben. Sie nennen sich selbst einen sehr fröhlichen Menschen, der meist traurige Bücher schreibt. Woher kommt dieser Gegensatz?
Das liegt irgendwo in der Tiefe meiner Seele, eine Gleichzeitigkeit von Melancholie und Weltoffenheit. Einige meiner Bücher wurden inzwischen ins Französische übersetzt, und meine Freundinnen konnten sie lesen. Sie waren erstaunt: Ich sei doch immer so lustig und dann schriebe ich solche Bücher. Natürlich hat das auch mit der großen Last zu tun, die auf uns, der Zweiten Generation, liegt. Das ist mein Umgang damit. Ich bin ja keine im eigentlichen Sinne engagierte Autorin. Ich ziehe es immer vor, auch in dieser gegenwärtigen schrecklichen Zeit, mich in der Literatur auszudrücken.

Mit der Schriftstellerin sprach Knut Elstermann.

Barbara Honigmann gilt als eine der wichtigsten deutsch-jüdischen Stimmen. Am 12. Februar wird sie 75 Jahre alt. Geboren 1949 in Ost-Berlin in einer jüdisch-kommunistischen Emigrantenfamilie, studierte sie von 1967 bis 1972 an der Humboldt-Universität Theaterwissenschaften, arbeitete als Dramaturgin, schrieb erste Texte und malte. Ihre meist autobiografisch gefärbten Romane und Essays umkreisen mit großer erzählerischer Kraft und Intensität Lebensfragen nach jüdischer Identität in der Gegenwart – mit einem genauen Blick auf die Vergangenheit. Seit 1984 lebt die vielfach ausgezeichnete Autorin in Straßburg. Mit ihrem Mann Peter Honigmann hat sie zwei Kinder.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

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Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

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NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

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Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

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Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

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NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

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Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

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Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

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Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

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