Nir Baram wohnt am Yitzhak-Rabin-Platz in Tel Aviv, auf dem der Friedensnobelpreisträger 1995 ermordet wurde. Die Lage seines Apartments scheint zufällig, auch wenn Baram auf ähnlichen Pfaden unterwegs ist wie der ehemalige Staatspräsident: Er sorgt sich um die Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern, und zwar tätig. Denn Reden schwingen über den Frieden, das tun viele, nicht nur israelische Pazifisten.
Nir Baram hat etwas getan, was die wenigsten Israelis jemals tun. Der Autor ist in die besetzten Gebiete gereist, ins Westjordanland und ins östliche Jerusalem. Er hat sich in den Siedlungsaußenposten umgesehen und mit den Menschen dort geredet, hat mit Männern der Fatah wie der Hamas gesprochen, mit Rabbinern ebenso wie mit orthodoxen Hardlinern. Was Baram nach Tel Aviv zurückgebracht hat, ist starker Tobak. Selbst seine Freunde von der Friedensbewegung waren überrascht, manche auch brüskiert. Kein Wunder: »Sie schmieden Friedenspläne für Orte, die ihnen schlicht unbekannt sind«, mokiert sich Nir Baram.
einblicke Seine Berichte, die zunächst in der Haaretz erschienen sind und nun als Buch vorliegen, liefern ein düsteres Bild nicht nur von den besetzten Gebieten, sondern von der israelischen Gesellschaft als Ganzes. Das Buch heißt treffenderweise Im Land der Verzweifelten. Dabei wirkt Nir Baram selbst nicht wie einer jener Verzweifelten, über die er schreibt, sondern wie ein ganz normaler Israeli, der versucht, jenseits des Konflikts seinen Alltag zu meistern.
Seine Küche, auf deren Fliesen die »Raupe Nimmersatt« liegt, dient gleichzeitig als Spielwiese für seinen kleinen Sohn Daniel. Und neben seinem Schreibtisch hat seine Frau Tamar die nasse Wäsche auf die Leine gehängt. Offensichtlich lässt sich an einem solchen Ort präzise der Status quo seines Heimatlandes diagnostizieren.
Seit Purple Love Story, Der Wiederträumer und Gute Leute zählt Nir Baram zu den wichtigsten Nachwuchsautoren seiner Heimat. Ein Jahr lang war Baram unterwegs und hat Israelis getroffen, die auf der anderen Seite der Mauer leben, hat den Chef des palästinensischen Flüchtlingslagers Balata getroffen oder war in Kalandia, jenem Checkpoint zwischen dem Westjordanland und Jerusalem, und hat sich dort sein eigenes Bild gemacht. »Die Menschen in Tel Aviv reden über die Straßen in der Westbank. Sie sagen, dass es Straßen für Juden gibt und Straßen für Palästinenser. Aber ich habe gemerkt: Das ist Unfug, das stimmt überhaupt nicht.«
Fanatiker So erging es Nir Baram häufig. Nicht einmal seine Freunde aus der »Peace Industry« kennen Orte wie die Siedlungsaußenposten. »Keiner von ihnen hatte zum Beispiel eine Ahnung von der Menge an säkularen Bewohnern. Man glaubt ja immer, dort wohnen nur Fanatiker und Ultraorthodoxe, die ihre Zeit damit verbringen, in die Synagoge zu gehen. Aber das stimmt nicht. Mehr als ein Drittel der Bewohner ist säkular.«
Doch diese multikulturelle Gesellschaft, schreibt Baram, lebe in einem »jüdischen Ghetto«, das niemals verlassen wird, erst recht nicht, um die »Fremden« im eigenen Land kennenzulernen. »Noch meine Großeltern und mein Vater haben arabisch gesprochen – nur ich kann kein Arabisch. Wie all meine Freunde habe ich es nie gelernt. Dabei wäre das so wichtig.« Doch Baram weiß auch, dass es inzwischen eine junge Generation von Palästinensern gibt, die ihrerseits kein Hebräisch mehr spricht – »ein Ausdruck einer neuen Separation«.
Und was wünscht sich der sonst so düster in die Zukunft blickende Autor in seinen kühnsten Träumen? »Meine arabische Großmutter kam aus Aleppo – ganz einfach dorthin zu reisen.« Davon hat einst schon Schimon Peres geträumt. Seine Vision war, sich in Tel Aviv in ein Auto zu setzen und einfach so nach Damaskus zu fahren. Eine Bombenidee. Und ein großartiges Buch!
Nir Baram: »Im Land der Verzweifelten«. Übersetzt von Markus Lemke. Hanser, München 2016, 304 S., 22,90 €