Am Ende kommt dann noch einmal so eine Sequenz, die für diesen Film sehr typisch ist und einiges über seine Machart verrät: Was sich vor der Kamera ergibt, darf geschehen, und was geschieht, darf sich entwickeln. Die Kamera tut nichts anderes, als nur dabei zu sein, zu beobachten; Präsenz wie Kommentierung einer Regie scheinen nicht vorhanden.
Da sitzen also Natan Grossmann (94) und Henry Rotmensch (96) nebeneinander. Hinter ihnen die Wohnzimmerschrankwand voller Dinge, zwischen ihnen ein runder Tisch mit Spitzendeckchen. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet. Die Blickachsen verlaufen parallel, enden in der Kameralinse. Die beiden kommunizieren, ohne sich anzusehen, tun das in großer Vertrautheit und ohne zu reden. Stattdessen singen sie. Immer mal wieder setzen sie ein, hängen sich an ein jiddisches Wort, einen jiddischen Halbsatz, der Erinnerungen wachruft, lassen sich forttragen von der wehmütigen Melodie.
HABACHTSTELLUNG Ein abgenutzter, viel zu großer Kassettenrekorder macht dieses »Gespräch« möglich, lässt dieses Lied erklingen, das die beiden Männer bewegt. Natan wird dabei manchmal in Gestik wie Mimik pathetisch, lässt aufgestaute Energie eines Lebens, das ihm seit der Kindheit eine Habachtstellung abverlangt, alles Weitere demonstrieren. Henry erlaubt Worten wie Melodie, ihn einfach mitzunehmen in eine Welt, die man ihm gewaltsam entrissen hat. Natan und Henry bilden eine Schicksalsgemeinschaft.
Der Dokumentarfilm der Regisseurin Tanja Cummings (45) mit dem Titel Das Zelig ist im Sommer 2020 fertig geworden. Kein gutes Jahr, um einen Film der Öffentlichkeit zu übergeben. Dennoch hat Cummings ihn bei diesem und jenem Filmfestival eingereicht »und dann einfach geschaut, was passiert«. Jetzt endlich kann der Film am 11. Oktober in München, im Hubert-Burda-Saal der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, gezeigt werden. »Und das passt ja auch ganz wunderbar«, sagt Cummings.
TREFFPUNKT Denn fürs Café Zelig – und das ist ja mit Das Zelig gemeint – gibt es ohnehin etwas zu feiern: Vor fünf Jahren ist dieser Treffpunkt für Schoa-Überlebende in München auf Initiative des Psychosomatikers Joram Ronel gegründet worden. Seitdem können sich die alten Menschen einmal in der Woche, immer dienstags (zu Corona-Zeiten war das natürlich anders), in den Schwabinger Räumlichkeiten der B’nai B’rith Loge zusammenfinden, Kaffee trinken, miteinander reden.
Die Regisseurin wusste sofort: »Wenn wir das machen wollen, müssen wir uns beeilen.«
Miriam Acoca-Pres, Leiterin des »Café Zelig«, sorgt für ein abwechslungsreiches Kulturprogramm, geschultes Personal kümmert sich um große wie kleine Sorgen, Joram Ronel steht als klinischer Leiter des Treffens zur Verfügung. Ronel war es auch, der Cummings vor einigen Jahren gefragt hatte, ob sie nicht einen Film über das »Zelig« machen wolle, was natürlich eine Vorgeschichte hat.
Die heißt Linie 41, Titel eines prämierten wie international beachteten Dokumentarfilms Cummings’ von 2015, der die Rückkehr Natan Grossmanns, Überlebender des Ghettos Litzmannstadt und des KZs Auschwitz-Birkenau, begleitet hat ins heutige Łódz, sich mit ihm auf Spurensuche begab.
Im Zuge dieses Films lernte Cummings bereits das »Café Zelig« kennen. »Ich habe mir alles angesehen, wie die Atmosphäre da so ist, was die Leute für Geschichten erzählen, und dann kristallisierte sich als ausschlaggebende Frage heraus, mit wem man dort ins Gespräch kommen könnte«, erinnert sich Cummings. Und auch daran, dass sie sofort wusste: »Wenn wir das machen, werden wir uns wirklich beeilen müssen.«
Die Zusammenkünfte im »Zelig« bilden einen von drei wiederkehrenden Strängen, aus denen sich ihr Film zusammensetzt. Dem Zuschauenden vermittelt sich deutlich, wie viele dynamische Prozesse zwischen den alten Menschen ablaufen, die um die schön gedeckten, runden Kaffeetische sitzen. »Eine Dramatik entwickelte sich da wirklich ganz von selbst, und die Gesamtdramaturgie ergab sich dann am Ende beim Schneiden«, sagt Cummings.
In einer nächsten Ebene werden einige der Menschen, Überlebende – so auch Johewet Rosendahl (78) –, aber auch deren Kinder (wie Brigitte Bukszpan), Enkelkinder (wie Benjamin Rosendahl), die regelmäßig ins Café kommen, durch ihren Alltag begleitet. Ihre Geschichten bekommen Raum.
BEDZIN Henry Rotmensch folgte das Filmteam in dessen Heimatstadt, das polnische Bedzin (stark berührt die Szene voller Regen auf dem dortigen Friedhof). Einen dritten Strang bilden Sequenzen Münchner Stadttreibens, die einen in ihrer puren Neutralität herausreißen aus dem Geschehen, vergeblich eine Verbindung suchen lassen zur Café-Zelig-Welt.
Was Tanja Cummings Film Das Zelig zudem und neben allem anderen auszeichnet, ist die Gewissheit, dass da viel Gutes, Behutsames und Wichtiges auch ganz abseits des Drehs geschehen ist.
Der Film wird in diesem Monat unter anderem in Moskau, Berlin, München, Passau, Straubing, Dachau, Minden und Ludwigslust gezeigt.