Erica Jong

»Befreiung heißt gleiche Rechte«

Die Autorin über ihren neuen Roman, die Emanzipation von Frauen und Leidenschaft im Alter

von Ayala Goldmann  25.04.2016 17:17 Uhr

»Tut, was ihr wollt! Tut, was ihr tun müsst! Die Zeit geht zu schnell vorbei, um Gewissensbisse zu haben«: Erica Jong (74) Foto: dpa

Die Autorin über ihren neuen Roman, die Emanzipation von Frauen und Leidenschaft im Alter

von Ayala Goldmann  25.04.2016 17:17 Uhr

Frau Jong, Pessach gilt als das Fest der Freiheit. Was bedeutet Befreiung für Sie?
Meine persönliche Definition von Befreiung ergibt sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Befreiung in den 60er- und 70er-Jahren bedeutete für eine Frau, von den gesellschaftlichen Erwartungen befreit zu werden, an Haushalt und Kindererziehung gefesselt zu sein. Befreiung hieß, dass Frauen etwas tun konnten – und viel mehr als das. Befreiung hieß bessere Gelegenheiten, ohne dafür verurteilt zu werden. Wenn Sie überlegen, wo wir Frauen heute stehen, sind wir weit gekommen, aber noch nicht weit genug. Bis wir alle als gleichberechtigt anerkannt sind und die gleichen Rechte und Privilegien genießen wie Männer, zum Beispiel Bildung und gleiche Bezahlung für unsere Arbeit, wird es immer die Notwendigkeit für mehr Befreiung geben.

Viele Menschen, auch Frauen, stehen heute dem Begriff Feminismus eher abwertend gegenüber. Ist für Sie Feminismus nach wie vor wichtig und notwendig?
Ich finde nicht, dass der Feminismus an sich aus der Mode gekommen ist. Junge Frauen wollen gleichberechtigte Bezahlung, eine gleichberechtigte Sexualität und die gerechte Aufteilung der Aufgaben als Eltern. Das Wort Feminismus ist so simpel, dass es oft falsch verstanden wird. Es bedeutet einfach nur, dass Männer und Frauen dieselben Kräfte haben – und auch die gleichen Rechte genießen sollten. Manchmal ist es so: Je simpler eine Idee ist, desto mehr sind die Leute in der Lage, sie zu verzerren.

In Ihrem Klassiker »Angst vorm Fliegen« aus dem Jahr 1973 träumt die Heldin Isadora Wing, knapp 30, von sexuellen Abenteuern. In Ihrem neuen Buch »Angst vorm Sterben« schreiben Sie: »Mit 60 hatte eine Frau nicht mehr leidenschaftlich zu sein.« Was empfehlen Sie Frauen, wenn die Leidenschaft noch da ist, der Mann aber nicht?
Wenn Sie mein neues Buch lesen, dann erkennen Sie, dass meine neue Heldin Vanessa Wonderman eine Krise durchlebt, in der sie mit Tod und Verlust konfrontiert ist – und dabei den Sinn dafür verliert, wer sie ist und was sie will. Ich glaube nicht, dass Frauen über 60 das Interesse an der Leidenschaft verlieren. Leidenschaft kennt keine Altersgrenzen, aber sie entwickelt sich weiter und kann auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden, wenn man älter und weiser wird. Ich empfehle meinen Leserinnen nie etwas. Jede muss ihren eigenen Weg finden. Bücher können uns inspirieren, aber gute Bücher schreiben uns keine Regeln vor.

Sie schreiben in »Angst vorm Sterben«: »Ich wollte die wachsende Nähe zu meinem Mann weit mehr, als ich jeden Fremden wollte.« Ist diese Einstellung eine Frage des Alters?
Jeder Mensch altert anders, und wir sollten das nicht werten.

Welchen Vorteil sehen Sie darin, älter zu werden?
Erfahrung, Verständnis, Weisheit, Humor. Meine Enkelkinder aufwachsen zu sehen.

In Deutschland ist Lifting längst nicht so populär wie in den USA. Wenn sich Frauen hierzulande liften lassen, dann reden sie normalerweise nicht darüber. Sprechen Sie dieses Thema bewusst offen an?
Lifting kommt allmählich aus der Mode, weil Füllungen und Botox angesagter sind. Aber ja: Ich finde, dass Frauen nicht lügen sollten, wenn es darum geht, was sie tun, um jünger auszusehen. Das führt nur dazu, dass andere Frauen sich schlecht fühlen.

Bei vielen Juden ist Online-Dating populär, aber Vanessa Wonderman scheint auf diesem Gebiet nicht besonders erfolgreich zu sein. Ist das Internet für Frauen über 50 überhaupt eine Option?
Ich persönlich habe das Internet nie genutzt, um zu daten – aber ich kenne viele, die das tun. Wenn Sie einen guten »Bullshit-Radar« haben und viel Geduld, dann besteht immer die Chance, dass Sie jemanden finden. Nicht jeder im Netz ist durchgeknallt, aber viele Leute sind es. Das Problem im Internet ist die Anonymität. Verrückte Leute nutzen das aus.

Die Geschichte Ihrer Heldin, einer säkularen Jüdin, beginnt im Herbst in New York »in der Zeit der Teschuwa (Jom Kippur), des Neubeginns (Rosch Haschana)« und Sukkot. Ist Vanessa Wonderman traditioneller, als man glauben könnte?
Vanessa Wonderman ist mit dem Wissen aufgewachsen, jüdisch zu sein, obwohl sie nicht observant ist. Sie ist definitiv stolz darauf, Jüdin zu sein, aber nicht notwendigerweise auf sämtliche jüdischen Rituale versessen.

Ihre Heldin verbringt viel Zeit mit Ihren alten Eltern – haben Sie das auch getan? Und was hilft einem wirklich, mit dem schweren Verlust fertigzuwerden, wenn die eigenen Eltern sterben?
Ja, ich habe viel Zeit mit meinen Eltern verbracht, als sie alt wurden. Meine Mutter war fast 101 Jahre alt, als sie gestorben ist. Mein Vater war in seinen Neunzigern. Es gibt nichts, das einen jemals auf den Verlust eines Vaters oder einer Mutter vorbereiten kann. Auch wenn Sie wissen, dass er bevorsteht, ist es eine absolute Katastrophe. Wenn Sie glauben, dass Sie alles getan haben, um ein guter Sohn oder eine gute Tochter zu sein, wenn Sie Ihre Eltern geliebt und respektiert haben – dann haben Sie ein bestimmtes Gefühl von Abschluss, das Ihnen die Möglichkeit gibt, nach vorne zu schauen und weiterzumachen.

Ist es wichtig für Sie, jüdische Enkelkinder zu haben?
Ich bin sehr stolz darauf, wie meine Tochter ihre Kinder erzieht. Sie haben einen gesunden Respekt und Sinn dafür, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Sie kämpfen damit, den Holocaust zu verstehen. Sie realisieren, dass wir noch nie einen jüdischen Präsidenten in den USA hatten. Die Zwillinge sind acht, der Älteste ist zwölf Jahre alt. Die Kinder versuchen, herauszufinden, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Natürlich wird ihr Verständnis dafür wachsen, wenn sie älter werden.

Was ist der wichtigste Rat, den Sie jüngeren Frauen gerne geben würden?
Tut, was ihr wollt! Tut, was ihr tun müsst! Das Leben ist zu kurz, und die Zeit geht zu schnell vorbei, um Gewissensbisse zu haben. Versucht, auch das Unbewusste zu verstehen – genau wie die bewussten Regeln, an die ihr euch haltet. Lernt euch selbst kennen, wie das Orakel von Delphi sagt. Ich glaube, dass das Leben ohne Selbsterkenntnis ein Hindernislauf ist.

Sie haben in den 60er-Jahren in Heidelberg gelebt. Im März kamen Sie zu einer Lesereise zurück nach Deutschland. Welchen Eindruck hatten Sie von unserem Land – nach der Aufnahme von einer Million Flüchtlingen und dem Erfolg der rechtspopulistischen AfD bei mehreren Landtagswahlen?
Der Antisemitismus in Großbritannien macht mir eindeutig mehr Sorgen als der Antisemitismus in Deutschland.

Warum?
Britische Intellektuelle sind unkritisch propalästinensisch, das ist anscheinend ein Reflex. Sie verzeihen den Palästinensern einfach alles. Die Briten waren sehr involviert in die Staatsgründung Israels. Aber heute interessiert sich keiner mehr für die Vergangenheit oder für die Geschichte. Die Leute interessieren sich für Tweets, und Tweets können sehr einflussreich sein. Heutzutage ist es schick, sich über Israel lustig zu machen. Benjamin Netanjahu ist im Ausland nicht beliebt, aber Israel ist eine Demokratie, die sich politisch nach Rechts bewegt hat. Vielleicht mögen wir die Regierung nicht, aber die Wahrheit ist, wir leben nicht in der Gefahr, in der die Menschen dort leben. Es ist arrogant, wenn wir die Angst der Israelis kritisieren. Unsere Kinder sind nicht in der Armee. Ihre schon.

Antisemitismus wird nicht nur in Großbritannien virulenter ...
... nein, natürlich nicht. In den USA wurde Bernie Sanders neulich gefragt, was es auf sich hätte mit »zionistischen Juden«, die angeblich die Finanzwelt kontrollieren. Dieser ganze antisemitische Müll kommt wieder zum Vorschein. Und obwohl wir nicht glücklich über Netanjahu sind und die meisten amerikanischen Juden in Israel lieber eine Regierung der Arbeitspartei sehen würden, ist das noch längst keine Rechtfertigung für Antisemitismus in Großbritannien und anderswo.

Deutschland macht Ihnen in dieser Hinsicht weniger Sorgen?
Deutschland hat eine wirkliche Anstrengung unternommen, um den Faschismus zu verstehen – das trifft auf andere europäische Länder nicht ganz so zu. Es wird immer Faschismus geben, der aus seinen Löchern kriecht, und Juden werden weiterhin der ideale Sündenbock sein. Unsere Geschichte passiert immer und immer wieder, wie der Historiker Simon Schama gezeigt hat: Wir sind Wanderer, die in einem Land nach dem anderen Erfolg hatten, und sobald wir reich und mächtig genug werden, tötet man uns, um uns wirtschaftlich auszuplündern.

Zurück zum Auszug aus Ägypten: Wie haben Sie die Pessachfeiertage verbracht?
Wir gehen fast jedes Jahr zu einem Familienseder. Pessach ist ein Fest der Befreiung und eine Gelegenheit, sich damit zu beschäftigen, was Befreiung bedeutet. Pessach bedeutet einfach jedem etwas. Ich komme aus einer nicht-observanten Familie, und ich bin der Religion gegenüber nicht unkritisch, aber ich denke, wir Juden haben der Welt sehr viel zu geben: unseren Glauben an Bücher, an das Lesen, an die Wissenschaft, an Gleichberechtigung und Menschenrechte.

Erica Jong: »Angst vorm Sterben«. Übersetzt von Tanja Handels. S. Fischer, Frankfurt/Main 2016, 368 S., 19,99 €

Erica Jong wurde am 26. März 1942 in New York City
geboren. Ihr autobiografisch geprägter Roman »Angst vorm Fliegen« aus dem Jahr 1973 machte sie schlagartig berühmt. Das weltweit mehr als 18 Millionen Mal verkaufte Buch ist in 27 Sprachen erschienen. Die 74-Jährige ist zum vierten Mal verheiratet und hat eine Tochter. Mit ihrem zweiten Mann lebte sie von 1966 bis 1969 in Heidelberg.

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