An diesem Abend sollte eigentlich nicht die zigste Veranstaltung stattfinden, die die Geschehnisse während der documenta 15 analysiert. Vielmehr sollte die Diskussionsrunde, zu der die Frankfurter Jüdische Gemeinde am Mittwoch vergangener Woche eingeladen hatte, einen Blick nach vorne wagen.
Wie geht man mit der Debatte um, die durch die jüngste documenta ausgelöst wurde? Eingeladen waren Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn (Grüne), die Autorin und Dramaturgin Stella Leder sowie die Kunsthistorikerin Julia Voss. Moderiert wurde die Runde von Claudius Seidl von der FAZ.
BILDSPRACHE Angela Dorn betonte zu Beginn, dass ihr vor allem ihre Verantwortung und die des Landes Hessen als Mitträger der documenta bewusst sei. Sie bedauere das verlorene Vertrauen in den jüdischen Gemeinden: »Dass antisemitische Bildsprache auf der documenta gezeigt wurde, war eine nicht entschuldbare Grenzüberschreitung«. Fataler noch war jedoch das Versagen, dem Antisemitismus Einhalt zu gebieten.
Stella Leder stellte in diesem Kontext Fragen, die im Publikum auf Beifall stießen. Sie sagte, der Bericht der Expertenkommission, die nach der documenta einberufen wurde, gebe nur Antworten auf Interventionsmöglichkeiten für den Fall, dass sich eine documenta 15 wiederholen würde. Ihr fehle es an Vorschlägen für Prävention. Anscheinend mangele es vielen Beteiligten an Sensibilität, um Antisemitismus zu erkennen.
Die Besetzung einer Jury, die über die künstlerische Gestaltung einer so wichtigen Ausstellungsreihe bestimmt, sollte hierfür neu gedacht werden. Es komme auf die Rolle der Politik an, einen Strukturwandel in die Wege zu leiten. Auch in anderen Gremien im Kulturbetrieb fehlten antisemitismuskritische Menschen, so Stella Leder.
Die Besetzung einer Jury, die über die künstlerische Gestaltung einer so wichtigen Ausstellungsreihe bestimmt, sollte hierfür neu gedacht werden.
Julia Voss fügte hinzu, es brauche Stimmen, die nicht polarisierten, sondern differenzierten. Die Kunsthistorikerin beschrieb »ein großes Missverständnis«, nämlich »der Glaube, dass die documenta nur eine Ausstellung ist«. Doch im Gegenteil sei sie auch eine »Medienplattform« für Künstler.
MEDIENKONZEPT Somit fordere sie nicht nur ein kuratorisches Konzept, sondern auch ein Medienkonzept. Ein solches habe gefehlt, als das Kuratorenteam ruangrupa bei der documenta 15 mehr durch Schweigen als durch Aussagen auffiel.
Dass Antisemitismus in der Struktur der documenta schon seit ihrem Beginn verwurzelt ist, legte Voss auch anhand der Gründungsgeschichte der Ausstellung dar. So seien auf der documenta 1 (1955) bei der angestrebten Rehabilitierung der modernen Kunst, die im Nationalsozialismus als »entartet« diffamiert wurde, so gut wie keine jüdischen Künstler ausgestellt worden. Und das, obwohl die nationalsozialistische Propagandaaktion »Entartete Kunst« gezielt antisemitisch war.
Ein Thema, das nicht umgangen werden konnte, war die Israel-Boykottbewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions). »BDS verengt Räume«, stellte Stella Leder fest. Denn der ungeklärte Umgang mit der Bewegung beeinflusse die Atmosphäre in der Kunst- und Kulturwelt und mache es für kritische Stimmen immer schwerer, Unterstützung in Kulturinstitutionen zu finden. Daraus resultiere, dass immer mehr BDS-kritische Künstler und Künstlerinnen verstummten.
PRIVILEGIEN Eine wichtige Frage war die nach dem Umgang mit einer Kunst, die alle Privilegien der Kunstfreiheit beansprucht, aber Grenzen überschreitet und Antisemitismus propagiert. Dass das Publikum mit Angela Dorns Argumentation bezüglich des Eingreifens der Politik in die Kunst nicht zufrieden war, zeigte sich an dem Abend deutlich. Die hessische Ministerin und Grünen-Politikerin sagte, Kunstfreiheit bleibe so lange unantastbar, bis strafrechtliche Grenzen überschritten würden. Bis dahin gebe es wenig Handlungsspielraum.
Dagegen wandte Michel Friedman aus dem Publikum ein, dass allein das Eingreifen in die Geschäftsführung der documenta eine Möglichkeit gewesen wäre – und dass es ein gesellschaftliches Armutszeugnis sei, wenn das Strafrecht die einzige Instanz sein sollte. Er appellierte an die im Grundgesetz verankerte Wahrung der Menschenwürde.
Julia Voss resümierte zum Ende der Veranstaltung, sie hoffe, dass, »wenn Kunstfreiheit und Menschenwürde kollidieren, wir uns immer für die Menschenwürde einsetzen«.