Das Wort Menschenrechte gehört in westlichen Gesellschaften zu den großen demokratischen Grundbegriffen. Es besitzt einen besonderen Wohlklang, weil es einerseits juristisch sachlich klar ist, andererseits etwas Globales, Universelles und Nicht-Verhandelbares mit sich führt, dem Menschen parteiübergreifend zustimmen können. Kein Wunder also, dass dieser Begriff für transnational angelegte Kampagnen wie die 2005 gegründete BDS-Kampagne besonders attraktiv ist.
BDS steht für »Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen«. Mehr als 170 palästinensische Organisationen haben den Aufruf unterschrieben, dem es um eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Isolation Israels geht. Wohlgemerkt unabhängig von der jeweiligen Regierung in Israel und unabhängig von aktuellen politischen Entwicklungen, richtet sich die transnationale BDS-Kampagne gegen das Land an sich, gegen die Existenz des Staates Israel, und fordert mit zentralem Bezug auf die Einhaltung von Menschenrechten, der jüdische Staat solle sich am besten selbst abschaffen.
rhetorik Gerade der universelle Charakter der BDS-Rhetorik macht den verborgenen wie offensichtlichen Antisemitismus ihres Ansatzes besonders anschlussfähig. Wer will gegen Menschenrechte sein?
Die Zerstörungsfantasie ist weich verpackt.
Wer wollte nicht zustimmen, wenn es um die Frage nach Gerechtigkeit und fairer Teilhabe geht? Und der Begriff Boykott hat ja lediglich etwas subtil Aggressives an sich. Es wird niemand direkt angegriffen. Man fordert nur eine Verweigerungshaltung ein, ein Nein zu Produkten und Dienstleistungen, die erst auf lange Sicht zu einem völligen Zusammenbruch des gesamten Staatswesens führen sollen. Die Zerstörungsfantasie ist also weich verpackt.
Mit dem Problem des »menschenrechtsorientierten Antisemitismus« beschäftigt sich nun das aktuelle Buch Menschenrechte und Antisemitismus der Wissenschaftlerin Natascha Müller, das im Bielefelder transcript-Verlag erschienen ist. Die Autorin studierte an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, promovierte ebenfalls dort und gilt als fundierte Forscherin im Bereich jüdischer Geschichte und Rassismusforschung.
tradition Der BDS-Boykott steht in einer langen Tradition, welche von den Vertretern der Kampagne bewusst immer wieder aufgerufen wird. Bezüge zum Kampf gegen die »britische Besatzung« und die »zionistische Kolonisierung« in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts werden ebenso bemüht wie die Erinnerung an den von der Arabischen Liga 1945 ausgerufenen Boykott aller im britischen Mandatsgebiet Palästina hergestellten Produkte, welche in Zusammenhang mit jüdischen Produzenten und Dienstleistern standen.
Neuartig ist die kulturelle und mediale Verbrämung der altbekannten Strategieformate. Die BDS-Kampagne sucht den Anschluss an westliche Pop-Kultur, links-progressive Wissenschaftsdiskurse besonders im Globalen Süden, Feminismus, Anti-Diskriminierungsarbeit und Social-Media-Debatten. Grundton der verschiedenen Maßnahmen ist dabei der Hinweis auf grundlegende Menschenrechte, denen man angeblich zu neuer Geltung verhelfen möchte.
Die Verstrickung von BDS mit terroristischen Organisationen und gewaltbereiten Gruppierungen wird weitgehend ausgeblendet. Ebenso die eindeutig stigmatisierenden Sympathieaktionen von Prominenten wie beispielsweise dem Musiker Roger Waters, der seine internationale Bühnenpräsenz dazu nutzt, offen Hass und Wut gegen Israel in seine künstlerischen Performances zu integrieren.
In ihrem Buch erkundet Natascha Mülnun in weiten Bögen Theorien der Sozialpsychologie ebenso wie der politischen Soziologie.
In ihrem Buch erkundet Natascha Mülnun in weiten Bögen Theorien der Sozialpsychologie ebenso wie der politischen Soziologie. Sie stellt unterschiedlichste Formen von Antisemitismus vor und legt mit analytischer Brillanz die Kommunikationsmuster der BDS-Kampagne dar. Vor allem aber zeigt das Buch die sublimen Umdeutungen von Menschenrechtsdiskursen in ein politisches Programm, das, je tiefer man blickt, umso eindeutiger seine antisemitischen Wurzeln zeigt.
Verdienst Das große Verdienst des Buches, ist seine Sachlichkeit. Es legt den Fokus auf einen wissenschaftlichen Zugang, ohne moralisierendes Beiwerk. Müller leitet historisch, kulturell und anhand von Fakten den ausgrenzenden Charakter der BDS-Kampagne her und zeigt, dass, konsequent zu Ende gedacht, alle Seiten nur verlieren können, wenn Hass, Diffamierung und Boykott die leitenden Prinzipien sind.
Müller schreibt: »Hinter dem positiv besetzten Postulat universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen können im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts demzufolge Ausschlüsse produziert werden, die zwischen den legitimen Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen einerseits und der unsichtbar bleibenden israelischen Perspektive, ihren Forderungen, Interessen und Zielen andererseits differenzieren.«
Müller versucht zu verdeutlichen, dass die BDS-Kampagne genau das Gegenteil dessen anstrebt, was sie proklamiert, nämlich Menschenrechten neue Bedeutung zu verschaffen. Stattdessen findet ein Prozess statt, den man in den Medienwissenschaften »Framing« nennt. Es werden positiv besetzte Begriffe strategisch so lange eingesetzt, wiederholt und proklamiert, bis sie eine gewünschte Umdeutung erfahren haben.
Aus dem Kampf für Menschenrechte wird so ein erfolgreiches Konzept, Israelhass den Anschein von progressivem Humanismus zu geben. Müller betont dabei auch, dass die BDS-Kampagne vor allem aus Forderungen wie Rückkehr, Gleichheit, Anerkennung für arabische Perspektiven besteht, aber wenig konstruktive Lösungsansätze für die bestehenden Probleme im Nahostkonflikt liefert: »Rechte einzufordern, ohne konkrete Vorschläge für deren Umsetzung zu unterbreiten, lässt sich dabei als eine zentrale strategische Ausrichtung der Bewegung definieren.«
Die Verwendung des Wortes »Apartheid« ist gezielte Strategie.
Müller zeigt zudem auf, dass gerade der humanistische Grundton der BDS-Rhetorik transnationale Resonanz bei Gewerkschaften, Kirchen, NGOs, Kultureinrichtungen und Hilfsorganisationen auslöst. Auch die permanente Verwendung des Wortes »Apartheid« für die Situation in Israel sieht die Autorin als gezielte BDS-Strategie. Die Erinnerung an das Apartheidsystem in Südafrika ist eben auch untrennbar mit der Erinnerung an mächtige Widerstandshelden wie Nelson Mandela verknüpft. Mit solchen Assoziationen kommen gute Gefühle auf.
image Hierin liegt, so zeigt Müller, eine der größten Gefahren der BDS-Kampagne. Sie agiert international und arbeitet mit »emotionalen Besetzungen«. Die BDS-Bewegung spricht gerade Gerechtigkeitsgefühle bei jungen Menschen an und verleiht sich das attraktive Image des Underdogs. Eine soziale Bewegung scheinbar von unten, den Menschenrechten und den Vereinten Nationen verpflichtet, in der Tradition ehrbarer Widerstandskämpfe – wer wollte da widerstehen?
Was die Lektüre des sonst sehr aufschlussreichen Buches streckenweise etwas zäh macht, sind die psychoanalytischen Ausflüge der Autorin. Man muss möglicherweise nicht Freud und Lacan bemühen, um die ständige Konstruktion von jüdischen Menschen als den anderen nachzuvollziehen. Es weitet auch das Feld der Analyse auf eine Ebene aus, in der eine quasi klinische Analyse individuelle und kollektive Verantwortung reichlich aufweicht.
Das Buch zeigt gerade da seine Stärken, wo es aus der politischen Soziologie heraus nüchtern und sachlich nachweist, dass die BDS-Kampagne destruktiv auf den Nahostkonflikt einwirkt und, statt Menschenrechte zu befördern, eher Hass und neue Konflikte erzeugt.
Natascha Müller: »Menschenrechte und Antisemitismus. Die transnationale BDS-Kampagne gegen Israel«. transcript, Bielefeld 2022, 308 S., 45 €