Wirtschaft

»Bayerns berühmte Marke«

Letztlich war es der Streit um einen Aufruf zur Tora, der aus Lazarus Eberhardt einen Schnapsbrenner machte. 1877 kam es in der Synagoge seiner Gemeinde im unterfränkischen Maßbach zu besagtem Zwist. Und Lazarus, Sohn einer angesehenen jüdischen Familie, zog um. Zunächst nach Kitzingen am Main, wo er als Kompagnon die Weinhandlung Klugmann & Eberhardt betrieb. Bald heiratete er Cäcilie Klopfer, die aus Hürben bei Augsburg stammte, und die junge Familie zog nach München, wo Lazarus 1879 endlich die Enzianbrennerei »L. Eberhardt« gründete. Sein »Blaukranz-Enzian« sollte bald den Ruf der Firma begründen.

Aus der Wurzel des Gelben Enzians – und nicht des blau, blau, blauen, der in Heinos Lied besungen wird – wird der berühmteste Schnaps des Alpenraums hergestellt, mit seinem unverwechselbaren rauchig-würzigen Geschmack. Und es war Lazarus’ Brennerei in München, die zur bedeutendsten Enziandestillerie in Deutschland werden sollte.

Vielleicht wurde ihr jüdischer Ursprung bislang nicht zur Kenntnis genommen, weil der Name Eberhardt so gar nicht jüdisch klingt. Tatsächlich scheinen alle im Deutschland der Vorkriegszeit lebenden Angehörigen der jüdischen Familie Eberhardt sich auf jene Gemeinde Maßbach in Unterfranken zurückverfolgen zu lassen, wo der Familienname unter den dortigen Juden im späten 18. Jahrhundert erstmals belegt ist.

marketing Lazarus Eberhardt selbst wurde im Jahre 1849 als achtes von insgesamt neun Kindern des »Handelsmanns« Alexander Eberhardt und seiner Frau Marianne, einer gebürtigen Rosenstein, geboren. Aus den Schulakten der Gemeinde Maßbach erfahren wir über seine Kindheit, dass Lazarus im Jahre 1857 als Strafe 15 Kreuzer in die Schulkasse zahlen musste, weil er sich zusammen mit weiteren zwölf jüdischen Werktagsschülern anlässlich einer »Judenhochzeit« in einem Gasthaus am Tanz beteiligt habe. Aus dem Tänzer wurde dann doch noch etwas, die Firma, die er in München aufbaute, florierte bald.

Nach Lazarus’ Tod im Jahr 1902 übernahm sein Erstgeborener Sigmund das Geschäft. Unter seiner Leitung begann der schnelle Aufstieg zu einem weit über die Grenzen Bayerns bekannten Unternehmen. Sigmund war seiner Zeit voraus, denn er erkannte, dass die Qualität eines Produkts allein nicht ausreicht und es eines professionellen Marketings bedarf, um ihm zum Durchbruch zu verhelfen.

Er verbreiterte nicht nur die Produktpalette, sondern er ließ anlässlich der Bayerischen Gewerbeschau 1912 von dem bekannten bayerischen Künstler Paul Neu Werbemarken und -karten gestalten und in großer Auflage in Umlauf bringen. Auf diesen heute unter Sammlern sehr beliebten Marken wurden der »Blaukranz-Enzian« sowie der Enzianlikör »Hochalm-Gold« in Versen des bayerischen Heimatdichters Georg Queri und den farbenfrohen Bildern von Neu angepriesen.

Einer 1954 zum 75-jährigen Firmenjubiläum von »Bayerns berühmter Marke«, wie es dort heißt, erschienenen Broschüre ist zu entnehmen, dass die Firma L. Eberhardt bis Anfang der 30er-Jahre mehrfach bei Ausstellungen prämiert wurde und 1932 der Verkehrsverbund München-Südbayern die hübschen Eberhardt-Produkte als gute Werbung für das südbayerische Fremdenverkehrsgebiet erachtet hat. Selbst »seine Königliche Hoheit, der damalige Prince of Wales«, habe dem Eberhardt-Gebirgsenzian »seine besondere Anerkennung ausgesprochen«.

Die Wertschätzung, die Sigmund Eberhardt in seinem Metier entgegengebracht wurde, fand schließlich ihren Ausdruck in der Wahl zum zweiten Präsidenten des Vereins bayerischer Branntwein- und Likörfabrikanten.

arisierung Die NS-Herrschaft setzte all dem ein Ende und zerstörte die berufliche Existenz von Sigmund Eberhardt. Über den Vorgang der »Arisierung« der Firma geben Unterlagen, die im Bayerischen Wirtschaftsarchiv lagern, sowie rund 600 Seiten umfassende Aktenbestände des Wiedergutmachungsverfahrens der Nachkriegszeit, die sich im Münchner Staatsarchiv befinden, recht gut Auskunft. Schon bald nach der »Machtergreifung« 1933 wurde gegen die Firma agitiert, wodurch der Absatz der Produkte seit 1934 rapide zurückging.

In einem Schreiben an die Industrie- und Handelskammer München vom August 1935 schreibt Sigmund Eberhardt, dass er sich infolge der immer größer werdenden Schwierigkeiten und im Interesse der Angestellten und Arbeiter gezwungen sehe, den Verkauf seiner Firma an »arische« Inhaber ins Auge zu fassen. Diese Vorgänge dürften Sigmund allmählich von der Notwendigkeit einer Auswanderung überzeugt haben.

Dem im Staatsarchiv München aufbewahrten Reisepass seiner aus Marktbreit stammenden Frau Gretchen Eberhardt, geborene Fleischmann, ist zu entnehmen, dass sie im April 1935 mit dem Kreuzfahrtschiff »Milwaukee« Ägypten und Palästina besucht hatte. In wessen Begleitung, ist unklar. Sofern die Reise der Sondierung einer Auswanderung nach Palästina gedient hat, scheinen die Eheleute diesen Plan allerdings nicht weiter verfolgt zu haben. Im Frühjahr 1938 dann wurden Sigmund Eberhardt auf Betreiben der NSDAP sämtliche Betriebsräume der Firma in der Tulbeckstraße, die Ladenräumlichkeiten am Sendlinger Tor in München sowie seine Privatwohnung gekündigt.

Angesichts dieser neuen Situation musste Sigmund Eberhardt Firma und Geschäft im Mai 1938 weit unter ihrem tatsächlichen Wert an Franz Weiss verkaufen, mit dem die Familie Eberhardt in den Vorjahren geschäftliche Beziehungen unterhalten hatte. Von dem Erlös der Firma hatten Sigmund und Gretchen Eberhardt jedoch nichts, da der Betrag auf ein Sperrkonto eingezahlt wurde, über das sie nicht verfügen konnten.

Konsulat Da sie um die immer verzweifelter werdende Situation ihrer Eltern wusste, drängte die im Sommer 1938 in die USA ausgewanderte Tochter Alice ihre Eltern, beim amerikanischen Konsulat einen Antrag auf Aufnahme in die Warteliste für die Auswanderung zu stellen, was Sigmund im August 1938 auch tat. Nachdem Sigmund Eberhardt im November 1938 mit zahlreichen anderen prominenten Münchner Juden vorübergehend im KZ Dachau interniert worden war, nützte Weiss die Situation aus und erwirkte eine weitere Absenkung des Kaufpreises der Firma. Obwohl er im gleichen Haus wohnte, vermied er nach der Pogromnacht jeglichen Kontakt mit den Eberhardts.

Aus Angst, der Umsatz der Firma könne noch weiter zurückgehen, hatte Weiss bereits im Juli 1938 die Kunden- und Geschäftsfreunde wissen lassen, dass das Unternehmen »in rein arischen Besitz« übergegangen sei. Dies hielt allerdings Geschäftspartner nicht davon ab, misstrauisch darüber zu wachen, ob in der Firma auch tatsächlich Juden nichts mehr zu sagen hätten.

So fragt die Porzellanfabrik Creidlitz aus Coburg im Januar 1939 bei der Industrie- und Handelskammer München »höflich« an, ob die »Arisierung« der Firma L. Eberhardt auch wirklich nach dem neuesten Stand der gesetzlichen Bestimmungen durchgeführt worden sei. Der Betrieb erhielt prompt die beruhigende Antwort, dass »die Arisierung der vorgenannten Firma in einwandfreier Weise zustande gekommen« sei.

Obwohl es das erklärte Ziel der nationalsozialistischen Behörden war, mit der »Entjudung« von Wirtschaftsbetrieben so rasch wie möglich jegliche Spuren jüdischer Firmenbezeichnungen aus dem Wirtschaftsleben zu tilgen, erwirkte der »Ariseur«, dass bis Kriegsende die Produkte unter der Bezeichnung »Franz Weiss (vormals L. Eberhardt)« verkauft werden durften, was die außerordentlich große Bedeutung des Markennamens Eberhardt unterstreicht.

emigration Sigmund und Gretchen Eberhardt verließen sozial isoliert und nahezu mittellos im Frühsommer 1939 Deutschland und emigrierten in die USA. Dies bedeutete für sie die Rettung vor dem nahezu sicheren Tod, aber ersparte ihnen nicht, schon sehr bald mit dem schrecklichen Schicksal naher Familienangehöriger konfrontiert zu werden.

Sigmunds in München zurückgebliebener Bruder Leopold, dessen Frau Rosa und Gretchens Schwester Ida wurden in der Schoa ermordet. Ein schrecklicher Schlag war der Selbstmord der Tochter Alice, kurz nachdem sie im Jahre 1941 in den USA geheiratet hatte. Dass ein Zusammenhang zwischen dem Selbstmord und den Nachrichten über die sich immer mehr verschärfende Situation der in Deutschland verbliebenen Verwandten bestand, kann nur vermutet werden.

All diese Ereignisse müssen in Sigmund Eberhardt den Entschluss haben reifen lassen, das, was ihm und den Seinen geschehen war, nicht auf sich beruhen zu lassen und dafür zu kämpfen, nach Kriegsende sobald wie möglich wenigstens die wirtschaftliche Seite des erlittenen Unrechts ungeschehen zu machen. 1949 stellte Sigmund Eberhardt bei der Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern den Antrag auf Rückerstattung seiner ihm geraubten Firma, die wie durch ein Wunder den Krieg mitsamt der Einrichtung nahezu unbeschadet überstanden hatte.

In dem Verfahren vor der Wiedergutmachungskammer nahm Franz Weiss für sich in Anspruch, in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Sigmund Eberhardt gestanden, nur das Wohl der Firma im Auge gehabt und einen angemessenen Preis für die Firma bezahlt zu haben. Mit der Tochter Alice habe er sogar Heiratspläne geschmiedet, die jedoch durch deren Emigration durchkreuzt worden seien.

restitution Sigmund Eberhardt gelang es, diese Argumente als Schutzbehauptungen zu entlarven und deutlich zu machen, in welchem Maße der angebliche Freund der Familie die Eberhardts im Stich gelassen und von deren Zwangslage profitiert hatte. Das Verfahren endete im Mai 1950 mit einem Vergleich, bei dem Franz Weiss gegen Abgeltung seiner Ansprüche das Unternehmen an Eberhardt zurückerstatten musste. Nachdem er seine Firma wieder besaß, produzierte Sigmund Eberhardt noch fast zwei Jahre seine geliebten Enzian-Spirituosen, bis er sich, mittlerweile 74-jährig, dazu entschloss, den Betrieb 1952 zu verkaufen und endgültig in die USA überzusiedeln, wo er 1957 in Forest Hills starb.

Noch bis 1969 stellte die Firma L. Eberhardt unter diesem Namen eine breite Palette von Spirituosen her, doch wollte sich an die jüdische Geschichte von »Bayerns berühmter Marke« nach dem endgültigen Rückzug der Familie Eberhardt aus dem Unternehmen niemand mehr erinnern.

Die erwähnte, 1954 zum 75-jährigen Firmenjubiläum erschienene Broschüre nennt zwar Lazarus und Sigmund Eberhardt, verschweigt aber, dass sie Juden waren. Man liest lediglich, dass »nach einer durch die Verhältnisse bedingten Interimszeit« die Firma 1952 an die neuen Inhaber übergegangen sei. Mit dieser in der frühen Nachkriegszeit stattfindenden abermaligen Zerstörung von Erinnerung wäre der Plan der Nazis, jüdische Spuren im Wirtschaftsleben auszulöschen, in diesem Fall beinahe aufgegangen.

Der Autor ist Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Heidelberg und Ururenkel des Firmengründers Lazarus Eberhardt.

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