Vielleicht bin ich ja einfach nur naiv», sagt Hefziba Lifshitz-Vahav, zögert kurz und lächelt dann. «Aber vielleicht ist das ja gut so.» Hefziba Lifshitz-Vahav hat seit Jahren ein großes Ziel vor Augen. Sie glaubt, dass auch geistig Behinderte – Menschen mit einem IQ unter 70 – an einer Universität studieren und einen Abschluss erreichen können. Davon ist die Erziehungswissenschaftlerin nur noch zwei Semester entfernt.
In dem Programm «Ozmot» – auf Deutsch: «Stärken» – bereiten Lifshitz-Vahav und ihre Kollegen an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan derzeit 24 Menschen mit geistiger Behinderung auf ein Bachelorstudium vor. Lifshitz-Vahav hat bei zunächst drei von ihnen viel Potenzial erkannt. Sie glaubt, dass sie sich im kommenden Studienjahr einschreiben können.
Die meisten der Teilnehmer des Vorbereitungsprogramms haben das Down-Syndrom. Ausgewählt wurden sie nicht von den Wissenschaftlern selbst, sondern von der Organisation Yated, die sich für die Belange von Kindern mit Down-Syndrom einsetzt. Einzige Vorgabe: Sie müssen lesen und schreiben können. Zwölf von ihnen haben gerade erst begonnen, die anderen sind schon seit dem vergangenen Studienjahr dabei. Die drei, die Lifshitz-Vahav im Auge hat, sind im älteren Kurs. Sie sollen nicht nur studieren, sondern – wenn alles gut geht – auch einen Bachelorabschluss erreichen können.
Grundlagen Kaum irgendwo sonst auf der Welt sei das bisher möglich, erklärt Lifshitz-Vahav. An der Universität in Ontario, Kanada, könnten sie zwar Kurse besuchen, aber keinen Abschluss erreichen. An der Bar-Ilan-Universität werden sie sich für Erziehungswissenschaften einschreiben können. Hefziba Lifshitz-Vahav musste Kurse und damit Dozenten finden, die bereit sind, die Studenten aufzunehmen. Einer der Kurse ist «Einführung in die Sonderpädagogik», der andere «Geistige Behinderung».
Bis es so weit ist, müssen die drei potenziellen Studienkandidaten zusammen mit ihren neun Mitstudenten die Grundlagen pauken. In diesem Jahr stehen Soziologie und Geografie auf dem Plan, vergangenes Semester waren es Psychologie und Self-Advocacy, also Selbstbestimmung.
Einmal die Woche kommen die Studenten aus Jerusalem, Petach Tikwa, Rishon LeZion oder Tel Aviv an die Bar-Ilan-Universität. Sie haben einen Kurs am Morgen und einen am Mittag. Die Studenten sollen die wissenschaftlichen Grundlagen lernen, mit Theorien und Konzepten umgehen können.
Werte Im Fach Soziologie stehen an diesem Morgen die Konflikt-, die Funktionalitäts- und die Interaktionstheorie auf dem Plan. Das Wort «Erech», also «Werte», haben die beiden Lehrerinnen Liat Nefesh, 32, und Ronit Segal Maharal, 53, mit dem Beamer an die Wand projiziert. Die beiden Lehrerinnen sind selbst Studentinnen im Masterprogramm an der Fakultät für Erziehungswissenschaften. Ihr Schwerpunkt ist die Sonderpädagogik. Der Unterricht ist Teil ihres Studiums und wird bewertet – Unterrichtsinhalte in den entsprechenden Fächern müssen sich die Lehrerinnen zusätzlich aneignen.
Die meisten der geistig behinderten Studenten sind älter als gewöhnliche Studienanfänger: Sie sind zwischen 30 und 40 Jahren alt. Das ist aber kein Zufall: Das Programm basiert auf einer Theorie, die Hefziba Lifshitz-Vahav entwickelt hat. Die sogenannte «Compensation Age Theory» besagt, dass bei Menschen mit geistiger Behinderung das Intelligenzwachstum nicht wie üblich im Alter von etwa 20 Jahren zum Ende kommt, sondern sich bis Ende 40 entwickelt. Reife und Lebenserfahrung helfen den geistig behinderten Menschen dabei, zu lernen und einzuordnen. Am heutigen Unterrichtstag wird dies besonders deutlich.
Diskutieren «Was sind Werte?», fragt Liat Nefesh. Ein halbes Dutzend Hände schnellen nach oben. Die Studenten sind konzentriert, wissbegierig, wollen Teil des Unterrichts sein – und damit Teil dieser Universität. «Werte sind etwas, das uns unsere Eltern vermitteln», sagt Oded, 28. Der junge Mann mit den dunklen Haaren und der Brille ist einer der Studenten, die sich im nächsten Jahr einschreiben könnten.
«Ganz genau, sehr gut», lobt Ronit Segal Maharal. Doch die anderen Studenten sind nicht ganz einverstanden. «Was, wenn ich keine Eltern mehr habe?», fragt Erik. Die Studenten diskutieren. «Sie sind sehr gut darin, von ihren persönlichen Erfahrungen zu berichten», erklärt Shushana Nissim. Die Doktorandin koordiniert das Programm und hat auch den Lehrplan entworfen.
Ob die Erfinderin des Programms, die Koordinatorin oder die Lehrerinnen: Sie alle sind erstaunt über den Lernwillen und die Fähigkeiten der Studenten. «Ein großes Ziel ist es, dass sie sich hier voll integrieren können, sich als Teil der Universität fühlen und auch anerkannt werden: von den anderen Studenten und Wissenschaftlern und auch in der Gesellschaft», erklärt Hefziba Lifshitz-Vahav.
pauken In der Pause gehen sie alle zusammen in die Cafeteria, holen sich Kaffee, ein Sandwich, plaudern. Sie haben auch Taschen mit dem Uni-Emblem bekommen, die die meisten von ihnen stolz nutzen.
Selbst für die Studenten, die sich nach dem Programm nicht für ein Bachelorstudium einschreiben werden, ist «Ozmot» eine große Chance. Die 41-jährige Sigal zum Beispiel will danach endlich aufhören, im Supermarkt zu arbeiten. Die meisten ihrer Mitstudenten arbeiten als Haushälterin, Putzfrau oder Verkäufer. «Das Programm macht mich stärker. Man wird mich dafür respektieren», sagt sie.
Bis nächste Woche muss sie dafür aber pauken: Ein Test über den Lernstoff aus dem vergangenen Semester steht an. «So einfach ist das nicht. Viele werden am Wochenende büffeln», sagt die Lehrerin Liat Nefesh. Sie sind schon jetzt zu Semesterbeginn begeistert von ihrer Klasse, wie Nefesh erklärt: «Sie sind alle ganz großartige Menschen. Sie sind uns schon jetzt ans Herz gewachsen.»