Wagners Meistersinger von Nürnberg aus dem Jahre 1868 haben es in sich. Das sollten sie auch 2022 haben, wenn sie an der Deutschen Oper in Berlin von den langjährigen künstlerischen Partnern Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock vom Nürnberger Handwerkermilieu in eine Musikhochschule unserer Tage verlegt werden.
Wagners Rückwärts-Utopie im Gewand einer Nürnberg-Idylle hat Komödienpotenzial, aber auch Abgründe. Es geht um das Verhältnis von Tradition und Neuerung in der Kunst. Auf den ersten Blick ist Walther von Stolzing der vom Regelwerk unbelastete Neuerer. Immerhin gewinnt er den Sängerwettbewerb, obwohl er bei seiner »Bewerbung« krachend gescheitert war.
BECKMESSER Sein Rivale um Evas Hand, Sixtus Beckmesser (Philipp Jekal), wird nicht nur beim Wettsingen, sondern gleich ganz abserviert. Bei dieser Figur steht immer die Frage im Raum, ob er »nur« ein verballhornter Wagner-Kritiker war oder ob der Außenseiter als der Jude gemeint war, dessen Rausschmiss zum Kitt einer Gemeinschaft wird. All das ist er hier nicht. In der Neuinszenierung ist er ein noch nicht verstandener Neutöner.
Die Prügelei, die Beckmessers nächtlicher Auftritt am Ende des zweiten Aktes auslöst, mutiert daher nicht gleich (wie häufig) zu einem gewaltsamen Ausbruch der dunkelsten Seite des deutschen Unterbewusstseins. Diesmal bleibt es ein hochschulinternes nächtliches Konzert, bei dem das Publikum zunächst wegdöst, bis der zum Therapeuten mutierte Hans Sachs (zupackend in jeder Hinsicht: Johan Reuter) rabiat dazwischentrommelt.
Dem Schusterpoeten sind bei seinem Berufswechsel zum beliebten Hochschul-Physiotherapeuten seine Schuhe abhandengekommen. Frei nach dem Motto: kein Schuster, keine Schuhe. Warum allerdings am Ende alle mit hässlichen Kunststofflatschen ausgestattet sind, bleibt ein Geheimnis. Dafür hat Sachs (offenbar) ein handfestes Verhältnis mit Eva (etwas überaktiv: Heidi Stober).
Überzeugender gelingt die Szene, als Veit Pogner (Albert Pesendorfer) den absurden Vorschlag macht, seine Tochter als Siegesprämie für einen Wettbewerb auszusetzen. Hier war zumindest der weibliche Künstlernachwuchs sichtlich empört, beließ es dann aber bei einem Kopfschütteln und beschäftigt sich lieber mit sich selbst: jeder mit jedem, drüber und drunter. Selbst Eva und Sachs werden vom Drang zu erotischen Turnübungen erfasst.
HANS SACHS Als eine zum Nachdenken anregende Pointe in einer nicht durchgängig stringenten Inszenierung erweist sich die problematische Schlussansprache von Hans Sachs mit seiner Feier der deutschen Kunst beziehungsweise des Deutschen überhaupt. Walther schlägt ja bekanntlich nach seinem Sieg die Meisterwürde aus. Hier schnappt er sich Eva und stürmt mit ihr über den Saal hinaus an die frische Luft. Hans Sachs aber berauscht sich mit seiner Ansprache so, dass er damit die Massen wie ein Populist mitreißt!
Das ist so ein Moment, in dem die Inszenierung von beklemmender Aktualität ist. Immerhin ist den meisten Kollegen von Sachs das Entsetzen über die auflodernde nationale Euphorie anzusehen. Obwohl Sachs sich selbst anders verhält, wird damit bestätigt, was er vorher verkündet hat: »Verachtet mir die Meister nicht!«
Die Grundidee der Inszenierung ist durchaus plausibel, aber schon deutlich packender und sinnlicher umgesetzt worden. Im Detail bleibt vieles diffus, gerät beliebig oder aber übertrieben aktionistisch. Im Graben fangen Markus Stenz und das Orchester der Deutschen Oper krachend an, steigern sich aber.
Dass Walther von Stolzing der Sieger beim Wettsingen ist, war klar. Doch sein Interpret Klaus Florian Vogt lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er nach wie vor der Stolzing vom Dienst ist. Am Ende gab es viel Beifall für die Protagonisten und ein Bravo- und Buhkonzert für das Inszenierungstrio wie in alten Zeiten. Eine Wagner-Premiere eben.