Jörg Hansen blättert im leicht vergilbten Gästebuch des Bachhauses von Eisenach und zeigt auf einen Eintrag in schwungvoller Schrift: »Er hat als Erster das Bachhaus betreten, das war 1907.« Die Rede ist von dem jüdischen Dirigenten und Musiker Joseph Joachim, einem ehemaligen Schüler Felix Mendelssohn Bartholdys, der zum Christentum konvertiert war. Ihm ist die Entstehung jenes Hauses und des imposanten Bachdenkmals davor zu verdanken. Joseph Joachim hatte damals um Befürworter und Förderer geworben.
Das 19. Jahrhundert, erklärt Hansen, Leiter des Bachhauses und Ausstellungskurator, war geprägt von einer wahren Bach-Begeisterung, die auch viele Juden erfassen sollte. So wie Joseph Joachim. Das wiederum wirft einige Fragen auf. Denn in den Werken des Komponisten finden sich zahlreiche judenfeindliche Passagen, die alle auf die Texte Martin Luthers zurückzuführen sind. Warum also waren ausgerechnet Juden von einer Musik fasziniert, in der es vor Schmähungen gegen sie nur so wimmelte? Wieso machten sie Johann Sebastian Bach trotzdem zu einem ihrer Säulenheiligen? Antworten darauf versucht nun die Ausstellung Luther, Bach – und die Juden in Eisenach zu geben.
»Zu Bachs Zeit weht uns diese Rezeption im nach Bildung strebenden jüdischen Bürgertum entgegen«, weiß Ausstellungskurator Hansen. Exemplarisch dafür steht die Geschichte von Bella Salomon, Tochter des Bankiers Itzig. Sie war die Großmutter von Felix Mendelssohn Bartholdy und schenkte ihrem Enkelsohn zum 14. Geburtstag die Abschrift einer Dirigierpartitur von Bachs Matthäus-Passion.
judenjunge »Das muss ein großartiges Geschenk für das musikalische Wunderkind gewesen sein!«, sagt Hansen. Nur sechs Jahre später, gerade einmal 20 Jahre alt, führte Mendelssohn Bartholdy ebenjene Matthäus-Passion selbst auf. Mit 158 Sängern, wie man heute weiß – die erste große Aufführung seit dem Tode Bachs 1750 und zugleich wohl der Startschuss zur großen Bach-Renaissance. »Eines wird man mir nicht vergessen: dass ich als Judenjunge den Christen ihre größte christliche Musik wiedergebracht habe«, schrieb Mendelssohn Bartholdy über sein Werk.
»Seit 2013 haben wir 62 dieser Chor-Stimmen bei uns. Es sind schmale Hefte, aus denen die Sänger damals sangen, allesamt handschriftlich kopiert aus genau jener Partitur, die Bella Salomon einst ihrem Enkel schenkte«, berichtet Hansen.
Die Ausstellung widmet sich biografischen Geschichten wie dieser und verweist auf manch unschönes Detail. Sie vermittelt Einblicke in die Rezeptionsgeschichte der Schriften von Martin Luther und fordert eine Diskussion der Evangelischen Kirche darüber, ob sie die judenfeindlichen Texte weiterhin akzeptieren will. Hansen vertritt die Ansicht, dass sich die Protestanten von diesen Passagen distanzieren müssen – und rüttelt damit nur wenige Monate vor dem großen Reformationsjubiläum kräftig am Denkmal Luthers und damit zugleich auch an dem von Johann Sebastian Bach.
Komponist Das Bemerkenswerte: Der Komponist ist vermutlich nie in seinem Leben Juden persönlich begegnet. »In Eisenach gab es vielleicht wenige jüdische Händler auf dem Marktplatz. Niederlassen durften sich Juden im damaligen Sachsen nicht«, weiß Hansen zu berichten. »Anderenorts sah es ähnlich aus. In Mühlhausen lebte nur ein Jude, in Köthen gab es vielleicht fünf jüdische Familien.« Nur Leipzig stellt eine Ausnahme dar. Als Messestadt mit einer jahrhundertealten Tradition kamen oft jüdische Kaufleute in die Stadt.
Wer heute die Matthäus-Passion genau liest, wird rasch feststellen, dass es jene Texte in sich haben. Es gibt den Evangelisten, der die Geschichte erzählt, und es gibt die – ebenso dissonanten wie perfiden – sogenannten Judenchöre, die die Kreuzigung von Jesus fordern. An einer Stelle schreien sie: »Sein Blut komme über uns und unsre Kinder.«
Diese Worte haben eine Blutspur in der Geschichte hinterlassen. Und genau 70-mal ertönt dieser Satz, was natürlich kein Zufall ist. Denn im Jahr 70 wurde Jerusalem von den römischen Heerscharen verwüstet, was Martin Luther zu einer gerechten Strafe Gottes erklärte. »Ein dämonischer Satz«, ist Hansen überzeugt, »einer, der immer mit einer besonderen Portion Bösartigkeit gesungen wurde, und zwar mit Stimmen, die sich vor Hass beinahe schon überschlugen.«
Unter diesen Vorzeichen wurde die Matthäus-Passion im 19. Jahrhundert wahrgenommen und rezipiert, so der Wissenschaftler. Und im Dritten Reich wollte man sie erst recht so verstanden wissen. »Da hieß es 1939 auf dem Bachfest in Magdeburg: ›So ruft Juda noch heute!‹.«
polemisch Die Ausstellung in Eisenach zeigt viele Bilder, Handschriften, Briefe und Texte. Aber auch Bücher wie jenes von Johannes Müller, das Bach offensichtlich als Quelle diente. Der streng orthodoxe lutherische Theologe fiel schon früh durch seine Polemiken gegen Juden auf. Judaismus oder Jüdenthumb heißt Müllers Buch aus dem Jahr 1644. Sein Untertitel verrät die Haltung dahinter: »Ausführlicher Bericht von des Jüdischen Volckes Unglauben/Blindheit und Verstockung«.
Darin fordert der Autor ein Verbot des Judentums und den zwangsweisen Besuch christlicher Gottesdienste. Trotz dieser finsteren Inspirationsquelle für Johann Sebastian Bach haben sich im 18. und 19. Jahrhundert Familien des jüdischen Bildungsbürgertums an Karfreitag immer wieder in die Kirchen geschlichen, um ihre geliebte Johannes- oder Matthäus-Passion zu hören. Das Verdienst der Ausstellung ist es, die Wurzeln der Judenfeindschaft Bachs zu benennen – und zugleich die Faszination zu beschreiben, die er trotz allem auch auf jüdische Musikliebhaber ausgeübt hat.
»Luther, Bach – und die Juden«, bis zum 6. November 2016 im Bachhaus in Eisenach
www.neue-bachgesellschaft.de