Herr Schiff, Sie beginnen den Tag mit einer Stunde am Klavier. Und zwar mit Werken von Johann Sebastian Bach. Was hat er, was andere Komponisten nicht haben?
Es gibt andere fantastische Komponisten, aber Bach verkörpert den Höhepunkt der europäischen Musik- und Kulturgeschichte. Natürlich wurde bereits große Musik vor ihm und auch nach ihm geschaffen, aber sie ist nicht vergleichbar mit seinen Werken. Seine Musik ist eine Kombination aus Intellekt und Emotion. Er war ein frommer Mensch im besten Sinne des Wortes, aber voller Lebensbejahung. Und diese Spiritualität, die auch in seinen Instrumentalwerken präsent ist, das macht den Unterschied zu allen anderen aus. Hinzu kommt seine große Bescheidenheit. Bach war kein Egoist.
Würden Sie auch über sich selbst sagen, dass Sie nicht egoistisch sind?
Daran arbeite ich schon ein Leben lang. Hoffentlich gelingt es. Aber ganz perfekt wird es nie werden. Und das ist vielleicht auch gut so. Wir sind alle egoistisch und bleiben es, aber man kann daran arbeiten.
Sie konnten in der Staatsbibliothek zu Berlin eine Handschrift von Bach einsehen – das Original der Sammlung »Die Kunst der Fuge«. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Ich hatte viele schöne Erlebnisse in meinem Leben, aber das werde ich nie, nie vergessen. In Bachs Œuvre ist »Die Kunst der Fuge« das Größte, das es gibt. Dieses Werk im Original in Händen zu halten, war ein einmaliges Erlebnis.
Was hat Sie besonders beeindruckt?
Seine Handschrift ist so herrlich – und eben wellenartig. Keine geometrischen Linien, wie sie sehr schön in einer gedruckten Ausgabe stehen. Das gibt uns die Inspiration, auch seine Töne wellenartig zu artikulieren.
Ivan Fischer, Ehrendirigent des Berliner Konzerthauses, der wie Sie aus Ungarn stammt, hat einmal gesagt, Sie seien Sänger, Pianist und Poet in einem. Stimmen Sie dem zu?
Ich kann das nicht beurteilen. Aber wenn er das so empfindet, dann nehme ich das als Kompliment. Ich möchte wirklich auch auf dem Klavier singen. Viele behaupten, dass das Klavier ein Schlagzeug ist. Dagegen protestiere ich vehement.
Einer Ihrer ständigen Begleiter neben Bach ist Ihr eigens angefertigter Flügel. Was zeichnet ihn aus?
Es ist diese Gesanglichkeit, die Bösendorfer in mein Instrument mit eingebaut hat. Vielleicht ist es nur eine Äußerlichkeit, aber alle Flügel sind heutzutage schwarz und sehen wie Särge aus. Sie haben etwas sehr Dunkles. Ich wollte, dass mein Instrument die Farbe eines Streichinstrumentes hat. Der Flügel ist aus Mahagoniholz, was wunderschön ist. Aber viel wichtiger ist der Klang. Im Gegensatz dazu hat auch ein toller Steinway-Flügel eher etwas Objektives, während meiner eben sehr persönlich ist. Er ist wie meine eigene Stimme.
Sie haben die »Kunst der Fuge« bisher nicht auf CD eingespielt. Lange Zeit hatten Sie überlegt, ob sich dieses Werk überhaupt für ein Konzertprogramm eignet. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?
Jetzt bin ich überzeugt, dass es geht. Und ich werde das immer wieder tun. Man fragt mich oft, was für ein neues Repertoire ich habe. Und meine Antwort ist, dass ich gar keines habe, sondern dass ich mein Repertoire, das sehr, sehr groß ist, reduziere. Aber ich reduziere es aufs Wesentliche. Und am Schluss, glaube ich, wird nur »Die Kunst der Fuge« bleiben. Ich weiß noch nicht, wann, aber ich werde sie eher früher als später aufnehmen.
Die letzte Fuge endet sehr ungewöhnlich, weil Bach offenbar während des Komponierens starb. Wie würden Sie selbst gern sterben?
Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich möchte, dass es ähnlich ist wie bei Franz Schubert. Für ihn war der Tod ein Freund, ein Erlöser.
Franz Schubert war sehr krank …
… und er hat sehr gelitten. Ich bin, Gott sei Dank, nicht krank und fast dreimal so alt wie Schubert, als er starb. Ich habe so viel Glück im Leben, und wenn das heute oder morgen enden würde, dann bleibt mir nur die Dankbarkeit.
Löst Schuberts »Ungarische Melodie« bei Ihnen Heimweh aus?
Ja. Aber wenn ich die Musik von meinem großen Landsmann Béla Bartók spiele, dann ist das meine Verbindung zu meiner Heimat.
Haben Sie in Ungarn Antisemitismus erlebt?
Natürlich. Das wird mittlerweile sehr viel diskutiert, es gibt sehr viel Propaganda. Ich finde es tragikomisch, dass Ungarn mit seinem Präsidenten Viktor Orbán so eng an Israels und Benjamin Netanjahus Seite steht, aber Gott weiß, aus welchen Motiven heraus das geschieht. Ich kann aus eigener Erfahrung viel über Antisemitismus berichten. Ein Beispiel: Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Wir spielten immer Fußball auf der Straße, und ein Nachbarskind, das ein wenig jünger war als ich, sagte mir: »Du darfst nicht mehr mit uns Fußball spielen, weil du Jude bist, und ihr habt Jesus Christus getötet.«
Woher hat ein kleiner Junge so etwas?
Er hat das in der Sonntagsschule oder zu Hause von den Eltern gehört. Niemand kann mir erzählen, dass das nicht antisemitisch ist. Dieses Gefühl lag dort, wo wir lebten, sehr in der Luft. Wir wohnten in einer Gegend, in der wir die einzige jüdische Familie waren. Aber die anderen haben uns in Ruhe gelassen, weil mein Vater ein Frauenarzt und sehr beliebt war.
Haben Sie Ungarn 1979 aus politischen Gründen verlassen?
Jein. Sagen wir, es waren auch politische Gründe. Damals gab es noch den Sowjetkommunismus. Und ich, ich sehnte mich nach Freiheit. Aber ich fand die Stimmung, die Atmosphäre im Ungarn von János Kádár, dem ehemaligen Ministerpräsidenten, sehr klaustrophobisch. Ich wollte mich künstlerisch und menschlich weiterentwickeln. Und da bin ich mit 25 Jahren weggegangen. Eigentlich fast schon ein bisschen spät, aber nicht zu spät.
Sie sind nach England gegangen.
Ja, und kurz danach in die Vereinigten Staaten, von dort aus nach Italien und Österreich. Ich war lange Zeit in Salzburg, weil meine Frau dort lebte, und bin dann weiter nach Italien gezogen. Hier werde ich wohl bleiben.
Noch einmal zurück nach Ungarn. Ihre Eltern, beide Schoa-Überlebende, sind auf dem jüdischen Friedhof beerdigt. Sie sagten einmal, dass Ihre Mutter keine Kraft mehr für die Musik hatte. Sie spielte Klavier. War es schwierig für sie, dass auch Sie Klavier lernten?
Nein, sie hat mich vielmehr ermutigt. Sie war zwar immer sehr musikalisch, hat aber nach dem Krieg nicht mehr gespielt. Wir hatten ein kleines Klavier im Haus. Ich war Einzelkind, und mich hat das einfach fasziniert. Meine Mutter war wunderbar, weil sie mich nie gedrängt hat. Und ich war, Gott sei Dank, nie ein Wunderkind. Ich hatte eine ganz normale Kindheit. Mein Vater starb, als ich sechs Jahre alt war. Meistens war ich bei meiner Großmutter, da meine Mutter arbeiten musste. Sie freute sich über mein Klavierspiel. Sie hat mich nie selbst unterrichtet. Das war sehr klug von ihr.
In einem Interview haben Sie einmal erwähnt, dass Ihnen damit gedroht wurde, Ihnen die Hände abzuhacken. Was war vorgefallen?
Das ist im Internet geschehen. Da gibt es nicht wenige, die so etwas anonym sagen. Sie sind keine großen Helden. Ich hatte die Regierung und Viktor Orbán kritisiert. 2010 war das, als sie zum zweiten Mal an die Macht kamen. Seine Regierung führte neue Mediengesetze ein. So hat das angefangen. 2011 hatte Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft. Ich hatte einen offenen Brief für die »Washington Post« geschrieben, in dem ich das sehr infrage gestellt habe. Wie kann ein Land wie Ungarn die Präsidentschaft im Europäischen Rat übernehmen, wenn dort menschenrechtliche und demokratische Werte nicht stimmen? Und daraufhin gab es diese heftigen Reaktionen. Übrigens nicht nur im Internet, sondern auch in der öffentlichen Orbán-freundlichen Presse.
Was würde passieren, wenn Sie nach Ungarn fahren würden?
Gar nichts. Ich reise nicht aus Angst nicht nach Ungarn, sondern aus Überzeugung. Das ist wichtig für mein Gewissen, konsequent zu bleiben, solange diese Regierung dort an der Macht ist. Aber ich würde sogar noch weitergehen. Es sollte sich dort ganz wesentlich etwas ändern, was die Mentalität der Menschen allgemein betrifft. Aber das ist zu viel verlangt.
In diesem Jahr finden mehrere Landtagswahlen in Deutschland statt, unter anderem auch in Thüringen, wo die Rechtsextremen in Umfragen starken Zuwachs verzeichnen.
Ich verfolge das sehr intensiv. Es ist beängstigend. Aber mich überrascht das überhaupt nicht. Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit gibt es einen Rechtsruck. Mit Ausnahme von Polen. Der Grund ist, dass die Menschen sehr unzufrieden sind mit den linken Regierungen. Sie finden, dass die Kriminalität gewachsen ist, sie sind der Meinung, dass Massenimmigration und die »Wir schaffen das«-Politik versagt haben. Ich habe Angela Merkel damals sehr bewundert, aber wir können das nicht alles schaffen. Die Menschen haben genug davon. Und dann kommt die AfD, und deren Politiker predigen und versprechen alles. Wenn das dann – was Gott verhüten möge – eingelöst werden müsste, dann würde sich herausstellen, dass sie nicht liefern können, was sie versprechen.
Würden Sie dennoch in Thüringen auftreten, auch wenn die AfD die Regierung stellt?
Wenn man sehr streng ist, dann kann man heutzutage überhaupt nirgends mehr auftreten. Weimar ist eine Wiege der Kultur – und das ist stärker und wichtiger als die AfD. Ich würde sagen, ich werde in Thüringen trotzdem auftreten, aber ich beobachte die Welt sehr kritisch. Zum Beispiel ist Ungarn ein klarer Fall für mich. Aber alle meine ausländischen Freunde gehen nach Ungarn, treten dort auf und haben eine herrliche Zeit. Sie sprechen kein Wort Ungarisch. Sie haben keine Ahnung, was dort los ist. Und ich erwarte von den anderen auch nicht, dass sie die gleiche Meinung haben wie ich. Denn nehmen Sie zum Beispiel Russland, wo ich sehr viel gespielt habe, und zwar wahnsinnig gern. Ich finde, dass das russische Publikum das großartigste der ganzen Welt ist. Und trotzdem ist eindeutig klar, dass ich in der jetzigen Situation dort nicht auftreten darf. Aber auch da gibt es verschiedene Meinungen.
Die Kriege in der Ukraine und in Nahost dauern an. Haben Sie Verwandte oder Freunde in Israel?
Meine Verwandten dort sind bereits tot. Ich habe aber sehr viele Freunde in Israel und habe dort extrem viel gespielt. Das werde ich auch weiterhin tun, egal, was passiert.
Mit dem Pianisten und Dirigenten sprach Christine Schmitt.