Gute Vorsätze haben es meist an sich, dass sie hell und strahlend leuchten – und dann verpuffen wie Silvesterraketen. Ich weiß, wovon ich spreche: Einige meiner besten Freunde – übrigens auch mein Mann – sind Nichtjuden. Sie alle haben mir kurz vor Silvester im Tonfall der Überzeugung erzählt, was sie im Jahr 2012 an ihrem Leben zu ändern gedächten: Weniger arbeiten. Nicht mehr rauchen. Fünf Kilo abnehmen. Endlich mal wieder einen Babysitter bestellen und mit dem Partner oder der Partnerin ins Kino gehen.
Höflicherweise habe ich freundlich zu allen guten Vorsätzen genickt. Denn was den Jahreswechsel angeht, haben wir Juden unseren christlichen Mitbürgern einiges voraus – genau 3760 Jahre und gut drei Monate. Ende September, an Rosch Haschana, war ich exakt an dem Punkt, an dem meine Freunde und mein Göttergatte heute stehen.
Zum jüdischen Neujahr hatte ich mir geschworen, Arbeit und Privatleben effektiver zu trennen, meinen Schreibtisch aufzuräumen, weniger zu essen und jeden Tag Yoga zu machen. Im Jahr 5772 seit der Erschaffung der Welt würde ich ein ordentlicherer Mensch sein und entspannt im Hier und Jetzt leben.
alltag Dass der Plan mit dem Schreibtisch nicht aufgehen würde, war schon eine Woche nach Rosch Haschana sichtbar. Statt Yogaübungen zu machen, fand ich einen neuen Job in einer Online-Redaktion und hatte fortan noch weniger Zeit für Entspannung. Und daheim schaffte ich es nicht einmal, auch nur mal einen Abend offline zu sein – das zum Thema Trennung von Privatleben und Arbeit.
Wenigstens einen guten Vorsatz aber habe ich verwirklicht. Kurz nach der Weihnachtsvöllerei bei den christlichen Schwiegereltern in Sachsen sind wir zu meinen Eltern nach Süddeutschland weitergefahren. So entgingen wir den Kriegszuständen, die regelmäßig am letzten Tag des Jahres in unserer Berliner Nachbarschaft herrschen.
Der Dauerbeschuss mit Lang- und Mittelstreckenraketen durch unsere christlichen und muslimischen Mitbürger begann Silvester auch diesmal nachmittags um fünf und ließ erst morgens um die gleiche Zeit etwas nach, berichteten uns leidgeprüfte Nachbarn am Telefon.
Da hatten wir es in der beschaulichen schwäbischen Reihenhaussiedlung meiner Eltern besser: Die Knallerei war farbenfroh, aber von ziviler Lautstärke und eine halbe Stunde nach Mitternacht schon fast wieder vorbei. Sehr entspannend war auch, dass die jüdische Mehrheit im Haus sich nicht verpflichtet fühlte, nach einem Vierteljahr schon wieder Pläne zu fassen, die doch nicht verwirklicht werden würden.
Mit meinem Erfahrungsvorsprung von mehr als 3.000 Jahren und drei Monaten rate ich Ihnen deshalb: Vergessen Sie alle guten Vorsätze. Versuchen Sie nicht vergeblich, ein besserer Mensch zu werden. Dann könnte 2012, beziehungsweise 5772, ein richtig gutes Jahr werden. Jedenfalls ein entspanntes.