Finale

Ayalas Welt

Nie im Leben würde ich mich über ein interreligiöses Dialogprojekt lustig machen. Denn was gibt es Schöneres, als wenn Juden, Christen und Moslems die Heiligen Schriften der anderen laut zum Besten geben? Jeder, der mitwirkt, tut Gutes. Wohl deshalb haben sich so viele Promis bereit erklärt, bei den Jüdischen Kulturtagen vier Tage lang im Herzen Berlins die Tora, das Neue Testament und den Koran vorzutragen.

Die Straßenbahn quietschte, die Autos dröhnten – doch unverdrossen standen berühmte Menschen wie Erzbischof Rainer Maria Woelki, Grünen-Chef Cem Özdemir und die Gemeindevorsitzende Lala Süsskind auf der Oranienburger Straße und redeten gegen den Verkehrslärm an.

genesis Ich war Zeugin: Am ersten Morgen wischte sich Felix Leibrock, evangelischer Pfarrer und Mit-Initiator, nach drei Stunden Vortrag aus dem Buch Genesis den Schweiß von der Stirn. Ein Angestellter der Gemeinde, auf dem Weg zu seiner Arbeit, meinte achselzuckend: »Der Mann tut mir leid. Er liest seit sieben Uhr morgens gegen die Straßenbahn an.«

Der Theologe aber bewies Standfestigkeit: »Ich finde das ja gerade das Spannende, dass man auf die Straße geht und auch zu den Straßenbahnen hin spricht«, erklärte er. Von sieben bis 22 Uhr dauerte der tägliche Lesemarathon; nur wenige Passagen fielen weg. Leider habe ich verpasst, wie Lea Rosh aus dem Markus-Evangelium vortrug.

osamah Mir ist aber aufgefallen: Die Liste der Berliner Juden und Christen war lang. Doch warum konnte Leibrock nur zwei Muslime auftreiben? Weil er sich nur an deren Zentralrat und nicht an Berliner Moscheen gewandt hat? »Naja, wir halten uns ein bisschen an die Hierarchien«, meinte der Pfarrer. In letzter Minute teilte die Pressevertretung der Jüdischen Kulturtage mit: Osamah Anis Al-Doaiss werde im Auftrag des Zentralrates der Muslime vorlesen. Schön!, dachte ich mir, fragte mich aber: Wer ist dieser Mann?

Osamah entpuppte sich als 19-jähriger, freundlicher Informatikstudent mit deutschen und jemenitischen Wurzeln, der den Koran in perfektem Deutsch und, soweit ich das beurteilen kann, auch in fehlerfreiem Arabisch vortrug. Kurz zuvor hatte Cem Özdemir seinen Auftritt: »Ihr sorglosen Weiber!«, intonierte er in perfektem Schwäbisch. Allerdings war ihm nicht bewusst, dass er gerade aus dem Buch Jesaja vorlas. Sein Vortrag hat trotzdem großen Eindruck hinterlassen.

deutsch Die Idee der Koexistenz, bekannte eine israelische Touristin im Vorbeigehen, erscheine ihr zwar ein bisschen utopisch. »Aber vielleicht ist ja ein neues Zeitalter gekommen, wenn ein Türke vor einer Synagoge die hebräische Bibel auf Deutsch liest?«, fragte die Israelin und rückte ihre Sonnenbrille zurecht.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin.

Glosse

Rest der Welt

Fettiges zu Chanukka? Mir wird gleich schlecht ...

von Joshua Schultheis  15.12.2024

Comic

Es lebe der Balagan!

Die israelische Illustratorin Einat Tsarfati legt ein aufgeräumtes Buch über Chaos vor

von Tobias Prüwer  14.12.2024

Düsseldorf

»Seine Prosa ist durchdrungen vom tiefen Verständnis und empathischer Nähe«

Der Schriftsteller David Grossman wurde am Samstag mit dem Heine-Preis ausgezeichnet

 14.12.2024

Alexander Estis

»Ich bin Pessimist – aber das wird bestimmt bald besser«

Der Schriftsteller über die Folgen der Kriege in der Ukraine und Nahost, Resilienz und Schreiben als Protest

von Ayala Goldmann  12.12.2024

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  12.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Dezember bis zum 18. Dezember

 12.12.2024

London

Hart, härter, Aaron Taylor-Johnson

Ein Marvel-Schurke zu sein, ist körperlich extrem anstrengend. Dies räumt der jüdische Darsteller nach dem »Kraven The Hunter«-Dreh ein

 11.12.2024

PEN Berlin

»Gebot der geistigen und moralischen Hygiene«

Aus Protest gegen Nahost-Resolution: Susan Neiman, Per Leo, Deborah Feldman und andere verlassen den Schriftstellerverein

 11.12.2024

Medien

»Stern«-Reporter Heidemann und die Hitler-Tagebücher

Es war einer der größten Medienskandale: 1983 präsentierte der »Stern« vermeintliche Tagebücher von Adolf Hitler. Kurz darauf stellten die Bände sich als Fälschung heraus. Ihr »Entdecker« ist nun gestorben

von Ann-Kristin Wenzel  10.12.2024