Es war spät in der Nacht, und ich fuhr mit meinem neuen gebrauchten Auto vom Limmud-Festival am Werbellinsee zurück nach Berlin, erfüllt von anregenden Gesprächen und gleichzeitig hundemüde. Meine beiden Beifahrer unterhielten sich angeregt über jüdische Studien und die Kabbala. Ich dagegen hatte andere Sorgen: Kurz nach Joachimsthal erschien auf der kleinen Landstraße plötzlich ein Tier in meinem Scheinwerferlicht. Ich traute meinen Augen kaum: Es war ein riesiger Hirsch mit einem wunderschönen, prächtigen Geweih. Zum Glück fuhr ich langsam, ich konnte bremsen, der Hirsch überquerte in aller Seelenruhe die Straße und verschwand auf der rechten Seite im Gebüsch.
Meine Nerven flatterten. Als Stadtmensch bin ich auf vieles eingestellt – aber nicht auf Hirsche. Noch aufgeregter wurde ich, als wir auf die Autobahn nach Berlin einbogen, und ein Schild mit einem Tierbild vor weiterem Wildwechsel auf den kommenden acht Kilometern warnte. Brüsk unterbrach ich das judaistisch-kabbalistische Fachgespräch meiner Passagiere, das sich inzwischen um die mystische Bedeutung des Buchstaben Daleth drehte (die Zahl vier als Grundlage der Schöpfung oder so ähnlich), um die entscheidende Frage zu stellen: Was macht ein Autofahrer, wenn ein Hirsch so dicht vor das Auto läuft, dass eine Vollbremsung nicht möglich ist?
esoterisch Der vordere Beifahrer ging zunächst diplomatisch auf meine Befindlichkeit ein: »Wenn du nicht mehr ausweichen kannst, Geschwindigkeit beibehalten und einfach auf den Hirsch draufhalten«. Dann wandte er sich wieder der Kollegin auf der Rückbank zu und erörterte mit ihr den »Kabbala für Anfänger«-Kurs, den er demnächst besuchen wollte. An diesem Punkt wurde ich, nervös durch die Wildwechselwarnschilder und zusätzlich irritiert durch das Navi-Gerät, dessen Akku gerade den Geist aufgegeben hatte, ungnädig: »Kabbala interessiert mich nicht die Bohne«, fauchte ich. »Esoterische Modeerscheinung. Erst mal Tora und Talmud studieren, bevor man sich mit dem Sohar abgibt.«
Kaum hatte ich es gesagt, bereute ich auch schon meine Worte. Schließlich hatte das Limmud-Wochenende im Zeichen der Toleranz gestanden. Und vielleicht gibt es doch mehr zwischen Himmel und Erde als Talmud und Tora? Zu Hause heil angekommen, suchte ich nach tieferen Erklärungen: »Zwi«, das hebräische Wort für Hirsch, besitzt laut der jüdischen Zahlenmystik Gematria den Buchstabenwert 102. Mein Name, Ayala, bedeutet »Gazelle«, aber auch »Hirschkuh« – Zahlenwert 46. Liegt darin vielleicht der Grund, warum der Hirsch und ich in dieser Nacht nicht kollidierten? Und: Warum ist ein Hirsch mehr als doppelt so viel wert wie eine Hirschkuh? Beim nächsten Limmud-Treffen werde ich nicht nur Kabbala-Fans nach Hause fahren, sondern auch eine Gematria-Expertin mitnehmen.