Wenn der Vorhang aufgeht, muss man Aaron Frazer erst suchen. Der Soul-Musiker beginnt Konzerte dort, wo er sich am wohlsten zu fühlen scheint, seitdem er neun Jahre alt ist: hinter dem Schlagzeug, am Rande der Bühne. Ein ungewöhnlicher Auftritt für einen Sänger, der mit Into the Blue schon mit seinem zweiten Solo-Album auf Welttournee geht. Erst beim zweiten Song groovt er dann in golden glänzender Collegejacke über die Bühne und erfüllt den Konzertsaal mit seinem samtweichen Falsetto.
Dass Aaron Frazer irgendwann seine eigene Stimme finden und als Frontmann selbst im Rampenlicht stehen würde, hat er einem »Unfall« zu verdanken, wie er selbst sagt. Denn eigentlich ist Frazer Schlagzeuger und Hintergrundsänger bei »Durand Jones & The Indications«, einer Retro-Soul-Gruppe, die er 2012 mit seinen Freunden Blake Rhein und Durand Jones während seines Tontechnik-Studiums an der Indiana University gegründet hat und die seitdem vier Alben veröffentlicht hat.
»Ich hab Scratch Vocals für Durand aufgenommen, lag dabei aber auf dem Rücken und konnte deshalb nicht mit meiner Bruststimme singen, und so kam die Kopfstimme raus. Ich dachte: ›Wow, zum ersten Mal klinge ich wie ich selbst.‹ Das ist die Stimme, die du auch bei ›Is It Any Wonder‹ hörst«, erzählt Frazer.
»Is It Any Wonder« ist eine langsame, wunderbar sanfte Liebesballade
»Is It Any Wonder«, diese langsame, wunderbar sanfte Liebesballade, ist der erste Song von »Durand Jones & The Indications«, in dem Aaron Frazer erstmals Qualitäten als Solosänger zeigen konnte. Das erkannten nicht nur seine Band-Kollegen, sondern auch Dan Auerbach, Sänger der Blues-Rock-Gruppe »The Black Keys«, der Frazer ermunterte, ein eigenes Album zu veröffentlichen. Dennoch dauerte es fünf Jahre, bis die beiden 2021 Introducing …, Frazers erstes Solo-Album, herausbrachten. Der Musiker schien sich erst noch an die Idee gewöhnen zu müssen, im Rampenlicht zu stehen.
Dass er seine eigene Stimme fand, hat er einem »Unfall« zu verdanken.
»Man muss sich damit wohlfühlen, sich ohne Instrument in den Händen zu bewegen, und das ist sicher eine Fähigkeit, die ich entwickeln muss«, erklärt Aaron Frazer. »Jemand hat einmal gesagt, deine Superkraft als Frontmann ist es, die Peinlichkeit des Zu-viel-Tuns zu absorbieren. Meine Eltern haben mich dazu erzogen, keine Szene zu machen, aber wenn du vorne stehst, darfst du dich nicht scheuen, deine Gefühle auszudrücken.«
Die Liebe zur Musik haben ihm seine Eltern schon sehr früh nahegebracht. Aaron Frazer wurde 1991 in eine konservative jüdische Familie in Baltimore hineingeboren. »Wir hatten orthodoxe Nachbarn, ich bin mit Hebräisch-Lernen aufgewachsen, und wir sind jede Woche in die Synagoge gegangen«, erzählt er heute. Doch Frazer lernte nicht nur Hebräisch, sondern – viel prägender für sein Leben – genau zuzuhören. Vater und Mutter waren zwar keine Musiker, sondern Logopädin und Anwalt. »Aber sie waren großartige Zuhörer. Insbesondere mein Dad hat viel Zeit damit verbracht, mit mir nicht nur Songs zu hören, sondern mir beizubringen, auch auf bestimmte Komponenten und Elemente zu achten. Wenn du das machst, kannst du auch darüber nachdenken, warum du ein Lied magst oder warum es dich auf bestimmte Weise berührt.«
Jüdische Soul-Musiker sind so selten wie Cheeseburger auf einer Barmizwa
Jüdische Soul-Musiker sind so selten wie Cheeseburger auf einer Barmizwa. Was bringt Aaron Frazer also dazu, in die Tradition von Sam Cooke, Otis Redding oder Curtis Mayfield zu treten? »Soul kommt von Gospel-Musik, und vielleicht hat es damit zu tun, dass ich in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen bin – auch wenn es eine andere Religion ist –, dass ich diese Musik wertschätzen kann«, erzählt Frazer, der eigentlich Hip-Hop liebt.
Als er noch zur Highschool ging, stöberte er oft in Secondhandläden herum, auf der Suche nach Samples für seine Beats. Da fielen ihm die ersten Gospel-Platten in die Hände. »Ich bin kein religiöser Mensch, aber Musik berührt mich spirituell. Sie handelt von Liebe, Hingabe, Erlösung und Glauben. Das sind Themen, die man auch in weltlicher Musik findet. Daher fiel es mir leicht, die universelle Natur der Texte im Gospel zu erkennen, auch wenn sie sich auf Jesus und das Christentum beziehen.«
So nimmt Aaron Frazer nicht nur traditionelle Stücke mit gottesfürchtigen Sängern wie den »Harlem Gospel Travelers« auf, sondern interpretiert sie in seinem Werk auf weltliche Weise. »Ich weiß nicht, wer oder was Gott ist. Ich weiß nur, dass ich mich lebendig fühle, wenn ich diese Musik höre. Musik, bei der ich lachen oder weinen will und die mir das Gefühl von Dankbarkeit vermittelt«, erzählt Frazer.
»Dankbarkeit ist ein Thema, auf das ich in meinen eigenen Texten immer wieder zurückkomme«
»Dankbarkeit ist ein Thema, auf das ich tatsächlich in meinen eigenen Texten immer wieder zurückkomme. Es ist wunderschön, Zugang zu deiner Spiritualität zu finden, indem du die kleinen Dinge im Leben betrachtest und darüber nachdenkst, wie schön sie sind. Gospel-Musik kann dir wirklich helfen, dahin zu kommen.« In seinem Debüt-Album Introducing … wird etwa aus den »ewigwährenden Armen« Gottes die »ewigwährende Liebe« seiner Freundin, die ihn auffängt, wenn das Leben ihn zu Boden wirft.
Das klingt aus der Zeit gefallen, doch Aaron Frazer ist es ernst damit. Er würde in Zukunft gern ein ganzes Gospel-Album aufnehmen. Vorher wird der Sänger aber wieder Platz nehmen an seinem Schlagzeug am Bühnenrand und mit »Durand Jones & The Indications« auf Welttournee gehen. Frazer verglich seine Bandkollegen und sich einmal mit den »Avengers« (»Rächern«) aus den gleichnamigen Marvel-Comics. Jeder verfolgt Soloprojekte, aber es ist absolut sicher, dass sie wieder zusammenkommen.
Und was will Aaron Frazer »rächen«? »Ich glaube, ich würde den Verlust der Aufrichtigkeit rächen. Wir verspüren alle den Druck, witzig oder ironisch zu sein, erst recht im Internet. Ich liebe diese ironische Internetkultur, aber ich glaube auch, dass es etwas sehr Schönes ist, sich zu erlauben, etwas aufrichtig zu sagen und sich verletzlich zu machen. Ich denke, wenn du ehrlich bist, erschaffst du etwas Zeitloses.«