Literatur

Avantgarde oder Babel-Sprech?

»Verstecken. Verheken. Jeder Tat hat eine Tätter«: Tomer Gardi Foto: ORF

Literatur

Avantgarde oder Babel-Sprech?

Der israelische Schriftsteller Tomer Gardi sorgte beim Bachmann-Wettbewerb mit seinem »Broken German« für Ratlosigkeit

von Harald Loch  06.07.2016 12:03 Uhr

Bei den 40. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt nahm zum ersten Mal ein israelischer Schriftsteller am Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis teil. Tomer Gardi ist 1974 im Kibbuz Dan in Galiläa geboren, er lebt in Tel Aviv und hat Literaturwissenschaft in Jerusalem und Berlin studiert. Vorgeschlagen für den Wettbewerb wurde er von Klaus Kastberger, Professor für neue deutschsprachige Literatur und Jury-Mitglied des Bachmann-Preises, der zwei Autoren einladen durfte.

Einer von beiden war nun also Tomer Gardi mit seinem Text, der von einer Ima und ihrem erwachsenen Sohn handelt, die bei der Ankunft auf dem Flughafen in Berlin-Schönefeld ihr Gepäck nicht zurückbekommen. Stattdessen nehmen sie zwei fremde Koffer vom Band und fahren damit in ihr Hotel. Dort öffnen sie die beiden Stücke. Das eine gehört eigentlich Abd Alkarim Hamdan aus Beirut, das andere einer Awet Desta aus Asmara, Eritrea. Mutter und Sohn trinken einen Whiskey, probieren einige Kleidungsstücke, ziehen sie dabei falsch herum an und amüsieren sich beim Betrachten im Spiegel.

Orthografie Alles ist – bewusst – falsch an diesem Text, wie der Jury-Vorsitzende Hubert Winkels gleich zu Beginn anmerkte. Denn der Autor hat ihn in »Broken German« geschrieben, man könnte auch von »Babel-Sprech« reden. Die Worte in Gardis Beitrag sind manchmal falsch gewählt oder verdreht, die Grammatik stimmt nicht, die Orthografie ist ebenfalls fehlerhaft. Broken German heißt passend dazu der Titel von Gardis neuem Roman, der demnächst im Droschl-Verlag erscheint.

Und an diesem »gebrochenen Deutsch« entzündete sich eine nachdenklich stimmende Diskussion. Die Berliner Jurorin Meike Feßmann fragte zunächst ganz unschuldig: »Wie sind die Einwanderungsbedingungen in die Sprache?« – und fuhr dann fort: »Mit welchen Maßstäben messen wir diesen Text?« Beurteile die Jury den Beitrag des Autors anders, »nur weil er ein Israeli ist«? Diese Sprache gefalle ihr nicht.

Der Schweizer Juror Juri Steiner hielt dagegen. »Die gebrochene Sprache ist Voraussetzung für das, was der Autor sagen will«, sagte der Germanist mit dem Schwerpunkt Klassische Avantgarde. Es handle sich um einen extrem politischen Text, der Politik auf formaler Ebene abhandle. »Seine Sprache ist sehr exakt – gerade indem sie nicht exakt ist.« Durch die Sprachverwirrung erreiche der Text eine neue, philosophische Dimension, befand auch Hubert Winkels.

stilmittel Was bemerkenswert ist: Kein Juror ging darauf ein, dass Tomer Gardi perfekt Deutsch spricht und schreibt, dass er mit seinem »Babel-Sprech« kokettiert – und zwar nicht als billiger literarischer Kniff, sondern um des Textes willen. Der ist nämlich auf dieser formalen Ebene in einem ästhetisch zu beurteilenden Sinne durchaus ironisch zu verstehen. Immerhin lieferte Hubert Winkels so etwas wie den Schlüssel, wenn er das im Text durchgehaltene »Falsche« bemerkte: falsche Sprache, falsches Gepäck, falsch angezogene fremde Sachen.

Die Ironie legt das entscheidende, von Gardi aufgeworfene Thema offen: »Meine Muttersprache ist nicht die Muttersprache meiner Mutter. Die Muttersprache meiner Mutter ist nicht die Muttersprache ihre Mutter. Die Muttersprache ihre Mutter ist nicht die Muttersprache und so weiter. Und So viel viel weiter.«

Wenig später heißt es: »Wir sind Babylonisch. Wie wird es im Babylon gefeiert? Frage ich und sie sagt hör mal zu, Sohn. Auf unsere Muttersprachen gibt es kein Passiv. Wir benützen Wörter nicht um zu Vergeben. Verstecken. Verheken. Jeder Tat hat eine Tätter. Jetzt, was willst du denn feiern?«

Die textimmanente Dimension der ironischen Wahrheit wurde von der Jury nicht diskutiert. Eine neue Spielart deutsch-jüdischen Missverstehens?

Antisemitismus

Gert Rosenthal: »Würde nicht mit Kippa durch Neukölln laufen«

Die Bedrohung durch Antisemitismus belastet viele Jüdinnen und Juden. Auch Gert Rosenthal sieht die Situation kritisch - und erläutert, welche Rolle sein Vater, der Entertainer Hans Rosenthal, heute spielen würde

 01.04.2025

Berlin

Hans Rosenthal entdeckte Show-Ideen in Fabriken

Zum 100. Geburtstag des jüdischen Entertainers erzählen seine Kinder über die Pläne, die er vor seinem Tod noch hatte. Ein »Dalli Dalli«-Nachfolger lag schon in der Schublade

von Christof Bock  01.04.2025

Künstliches Comeback

Deutschlandfunk lässt Hans Rosenthal wiederaufleben

Der Moderator ist bereits 1987 verstorben, doch nun soll seine Stimme wieder im Radio erklingen – dank KI

 01.04.2025

Interview

Günther Jauch: »Hans Rosenthal war ein Idol meiner Kindheit«

Der TV-Moderator über den legendären jüdischen Showmaster und seinen eigenen Auftritt bei »Dalli Dalli« vor 42 Jahren

von Michael Thaidigsmann  01.04.2025

Jubiläum

Immer auf dem Sprung

Der Mann flitzte förmlich zu schmissigen Big-Band-Klängen auf die Bühne. »Tempo ist unsere Devise«, so Hans Rosenthal bei der Premiere von »Dalli Dalli«. Das TV-Ratespiel bleibt nicht sein einziges Vermächtnis

von Joachim Heinz  01.04.2025

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  01.04.2025

Geschichte

»Der ist auch a Jid«

Vor 54 Jahren lief Hans Rosenthals »Dalli Dalli« zum ersten Mal im Fernsehen. Unser Autor erinnert sich daran, wie wichtig die Sendung für die junge Bundesrepublik und deutsche Juden war

von Lorenz S. Beckhardt  01.04.2025 Aktualisiert

Hans Rosenthal

»Zunächst wurde er von den Deutschen verfolgt - dann bejubelt«

Er überlebte den Holocaust als versteckter Jude, als Quizmaster liebte ihn Deutschland: Hans Rosenthal. Seine Kinder sprechen über sein Vermächtnis und die Erinnerung an ihren Vater

von Katharina Zeckau  01.04.2025

TV-Spielfilm

ARD dreht prominent besetztes Dokudrama zu Nürnberger Prozessen

Nazi-Kriegsverbrecher und Holocaust-Überlebende in einem weltbewegenden Prozess: Zum 80. Jahrestag dreht die ARD ein Drama über die Nürnberger Prozesse - aus der Sicht zweier junger Überlebender

 01.04.2025