Bei den 40. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt nahm zum ersten Mal ein israelischer Schriftsteller am Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis teil. Tomer Gardi ist 1974 im Kibbuz Dan in Galiläa geboren, er lebt in Tel Aviv und hat Literaturwissenschaft in Jerusalem und Berlin studiert. Vorgeschlagen für den Wettbewerb wurde er von Klaus Kastberger, Professor für neue deutschsprachige Literatur und Jury-Mitglied des Bachmann-Preises, der zwei Autoren einladen durfte.
Einer von beiden war nun also Tomer Gardi mit seinem Text, der von einer Ima und ihrem erwachsenen Sohn handelt, die bei der Ankunft auf dem Flughafen in Berlin-Schönefeld ihr Gepäck nicht zurückbekommen. Stattdessen nehmen sie zwei fremde Koffer vom Band und fahren damit in ihr Hotel. Dort öffnen sie die beiden Stücke. Das eine gehört eigentlich Abd Alkarim Hamdan aus Beirut, das andere einer Awet Desta aus Asmara, Eritrea. Mutter und Sohn trinken einen Whiskey, probieren einige Kleidungsstücke, ziehen sie dabei falsch herum an und amüsieren sich beim Betrachten im Spiegel.
Orthografie Alles ist – bewusst – falsch an diesem Text, wie der Jury-Vorsitzende Hubert Winkels gleich zu Beginn anmerkte. Denn der Autor hat ihn in »Broken German« geschrieben, man könnte auch von »Babel-Sprech« reden. Die Worte in Gardis Beitrag sind manchmal falsch gewählt oder verdreht, die Grammatik stimmt nicht, die Orthografie ist ebenfalls fehlerhaft. Broken German heißt passend dazu der Titel von Gardis neuem Roman, der demnächst im Droschl-Verlag erscheint.
Und an diesem »gebrochenen Deutsch« entzündete sich eine nachdenklich stimmende Diskussion. Die Berliner Jurorin Meike Feßmann fragte zunächst ganz unschuldig: »Wie sind die Einwanderungsbedingungen in die Sprache?« – und fuhr dann fort: »Mit welchen Maßstäben messen wir diesen Text?« Beurteile die Jury den Beitrag des Autors anders, »nur weil er ein Israeli ist«? Diese Sprache gefalle ihr nicht.
Der Schweizer Juror Juri Steiner hielt dagegen. »Die gebrochene Sprache ist Voraussetzung für das, was der Autor sagen will«, sagte der Germanist mit dem Schwerpunkt Klassische Avantgarde. Es handle sich um einen extrem politischen Text, der Politik auf formaler Ebene abhandle. »Seine Sprache ist sehr exakt – gerade indem sie nicht exakt ist.« Durch die Sprachverwirrung erreiche der Text eine neue, philosophische Dimension, befand auch Hubert Winkels.
stilmittel Was bemerkenswert ist: Kein Juror ging darauf ein, dass Tomer Gardi perfekt Deutsch spricht und schreibt, dass er mit seinem »Babel-Sprech« kokettiert – und zwar nicht als billiger literarischer Kniff, sondern um des Textes willen. Der ist nämlich auf dieser formalen Ebene in einem ästhetisch zu beurteilenden Sinne durchaus ironisch zu verstehen. Immerhin lieferte Hubert Winkels so etwas wie den Schlüssel, wenn er das im Text durchgehaltene »Falsche« bemerkte: falsche Sprache, falsches Gepäck, falsch angezogene fremde Sachen.
Die Ironie legt das entscheidende, von Gardi aufgeworfene Thema offen: »Meine Muttersprache ist nicht die Muttersprache meiner Mutter. Die Muttersprache meiner Mutter ist nicht die Muttersprache ihre Mutter. Die Muttersprache ihre Mutter ist nicht die Muttersprache und so weiter. Und So viel viel weiter.«
Wenig später heißt es: »Wir sind Babylonisch. Wie wird es im Babylon gefeiert? Frage ich und sie sagt hör mal zu, Sohn. Auf unsere Muttersprachen gibt es kein Passiv. Wir benützen Wörter nicht um zu Vergeben. Verstecken. Verheken. Jeder Tat hat eine Tätter. Jetzt, was willst du denn feiern?«
Die textimmanente Dimension der ironischen Wahrheit wurde von der Jury nicht diskutiert. Eine neue Spielart deutsch-jüdischen Missverstehens?