Peter Blachstein (1911–1977) gehört zu den faszinierendsten Persönlichkeiten des demokratischen politischen Lebens im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Umso erstaunlicher ist es, dass erst heute eine umfassende politische Biografie dies zeigt.
Blachstein war Jude aus bürgerlichem Elternhaus und lehnte eine »jüdische Sonderexistenz« ab. Aber auf die sich selbst gestellte jugendgemäße Frage »Wer bin ich?« und »Was habe ich als Jude zu tun?« antwortet er auf einer Kundgebung des Jüdischen Jugendrings mit 19 Jahren: »Das Judentum ist unsere Grundlage ... der Glaube die Kraft zum Handeln«. Später hat er sich immer wieder »merkwürdig distanziert von den Juden als ›unglückliches Volk‹, so als gehöre er nicht dazu«, schreibt sein Biograf Ludger Heid.
Jugendbewegung Zu Beginn der 30er-Jahre wird aus Blachsteins jüdischer »Grundhaltung«, die er als »Kampf ... um eine sinnhafte Ordnung« versteht, sein Engagement in der sozialistischen Bewegung. Seinen Platz und seine Aufgabe sah er in der »Arbeits- und Kampfgemeinschaft der sozialistischen Partei«. Schließlich spielte schon in deren Jugendverband die »jüdische Herkunft« – im Gegensatz zur bürgerlichen Jugendbewegung – »keine Rolle«.
Die Gliederung des Buches deutet die Weite und Intensität seines Engagements an: »Der jüdische Jugendbewegte«, »Der Widerständige und Verfolgte«, »Der Flüchtende und Exilierte«, »Der Sozialdemokrat«, »Der Parlamentarier«, »Der Botschafter«, »Der Kämpfer für Menschenrechte«, »Der Medienpolitiker«, »Der politische Privatmann«, »Der Außenseiter«. Nur 66 Lebensjahre, in denen Blachstein aber die welthistorischen Gegensätze des »kurzen 20. Jahrhunderts« (Eric Hobsbawm) scharfsinnig erkannt, ausgehalten und zum Besseren zu wenden versucht hat.
Godesberg Verfolgt als Jude und Sozialist hatte Blachstein Deutschland einst verlassen, »als Sozialdemokrat«, so Heid, »sollte er es wieder betreten«. Blachstein wollte nach dem Exil kein »Nischen-Jude, den der Staat wie einen Angehörigen einer aussterbenden Gruppe behandelte«, sein. Als sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter ließ sich eine jüdische Nischen-Existenz umgehen. Mit der SPD traf er sich im vorbehaltlosen »Bekenntnis zu Demokratie und demokratischen Freiheitsrechten« und damit gegen die, so Blachstein, »roten oder braunen Feinde der Freiheit«. Bei der Abstimmung über das Godesberger Programm 1959 gehörte Blachstein zu den 16 Delegierten, die mit »Nein« stimmten.
Im Mai 1968 bot ihm Willy Brandt den Botschafterposten in Jugoslawien an. Nach einer kurzen, aber durchaus erfolgreichen Zeit in Belgrad musste Blachstein seinen Posten aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Seine Zukunft war ungewiss.
Einmischung Aber ihm blieb ein weites Feld für politische Aktivitäten, denn an »faschistischen und Militärdiktaturen mangelte es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht«. Vor diesem Hintergrund entwickelte und begründete Blachstein immer wieder das Prinzip der »Einmischung« – »überall dort, wo Menschen wegen ihrer Überzeugung ... oder ihres Glaubens wegen verfolgt und verurteilt« wurden. Seine »Moral hatte nichts mit Geografie zu tun«. Blachstein war geschichts-, deutschland-, außen- und europapolitisch wie in der Analyse weltpolitischer Zusammenhänge seiner Zeit weit voraus.
Sein politischer Weitblick zeigte sich auch in vielen Bereichen der Innenpolitik. »Gesellschaftliche Entwicklungen, die ihn an die NS-Zeit erinnerten, machten ihn hellhörig.« Seine – wenn auch verdrängte – jüdische Herkunft und seine stets präsente Erinnerung an eigene Verfolgungen bewahrten ihm ein »feines Gespür für judenfeindliche Tendenzen« selbst dann, wenn sie sich hinter »philosemitischen Klischees« verbargen.
Zum Stolz auf die jüdischen Wurzeln der SPD gehört heute eine breite parteiöffentliche Rezeption und Diskussion jüdischen Welt- und Lebensgefühls und seiner Begründungen. Auf diesem Weg steht die SPD allerdings noch am Anfang.
Ludger Joseph Heid: »Peter Blachstein. Von der jüdischen Jugendbewegung zur Hamburger Sozialdemokratie. Biographie eines Sozialisten (1911–1977)«. VSA, Hamburg 2014, 392 S., 29,80 €