Unter einem Baum im Kibbuz Nir Oz. Luis Cunio und seine Söhne, die Zwillinge Eitan und David, pflücken Orangen. Luis schält eine dieser dicken, saftigen Früchte und verteilt die Stücke an seine Kinder. So sollten sie schmecken, so sollte man sie essen, direkt vom Baum. Nicht im Netz nach Hause getragen, sagt Cunio. Die Kamera wackelt ein bisschen, denn einer der Söhne, der sie hält und filmt, isst nebenbei ein Stück Orange.
An einer anderen Stelle im Kibbuz, »da das Kinderhaus, es ist zum Schutz befestigt worden. Hey, winkt mal in die Kamera«, ruft David. Die Kinder auf dem Spielplatz stehen an einer Rutsche. Sie haben Spaß, sind ausgelassen. Später bei Eitan und David zu Hause: »Hallo Mama, bekomme ich keinen Kuss?« Nebenan schläft der jüngere Bruder Ariel. »Na, schläfst du?«, fragt einer der Zwillinge. »Jetzt nicht mehr«, antwortet Ariel.
Es sind Home-Videos. Spielerische Szenen voller Leichtigkeit. Sie zeigen den Alltag der beiden 21-Jährigen, die Regisseur Tom Shoval für seinen Spielfilm HaNoar – Youth (Jugend) für die Hauptrollen ausgewählt hatte. Der Film über zwei Brüder, die eine junge Frau entführen, um mit dem Lösegeld die Schulden ihrer Eltern zu begleichen, lief 2013 bei der Berlinale.
»Die PR-Abteilung bei Youth dachte, es wäre interessant, wenn wir zeigen, wie zwei Jungs aus dem Kibbuz Schauspieler werden. Diese beiden Kibbuzniks aus dem Süden, die sonst keinerlei Verbindung zum Kino oder zur Schauspielerei haben. Wir gaben ihnen also kleine Kameras und sagten: Filmt euch mal selbst«, erinnert sich Shoval im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.
Nany Spielberg produzierte den Film
Später wurden die Aufnahmen verworfen und landeten in einer Box, wo der Regisseur sie nach dem 7. Oktober 2023 wiederfand. Heute zeigen sie einen Ort, den es nur noch im Film gibt, kommentiert Shoval in seiner neuen Doku, die jetzt bei der Berlinale Premiere feierte. Michtav LeDavid (A Letter to David), produziert von Nancy Spielberg, zeigt vielleicht auch ein Land, das es so nicht mehr gibt.
In dem Amateurvideo sieht man wie zufällig Yarden und Shiri Bibas, die in der Nähe der Cunios in Nir Oz lebten. Shiri Bibas als lächelnde junge Frau, die, wie sie sagt, als Einzige die Zwilllinge auseinanderhalten kann. Und Yarden Bibas, der seit der ersten Klasse mit David Cunio befreundet ist. Als Sechsjähriger, erzählt Yarden, habe er David am Tag der Einschulung gefragt: »›Willst du mein Freund sein?‹ Und David hat ›Ja‹ gesagt.«
Shiri und Yarden Bibas sind auf einem alten Home-Video aus dem Kibbuz Nir Oz zu sehen.
Heute sind die Bewohner von Nir Oz traumatisiert, wurden ermordet oder von der Hamas nach Gaza verschleppt. Die Häuser des Kibbuz sind verbrannt; die Wände, die noch stehen, verkohlt. Ein bleiernes Nichts liegt über Nir Oz. Eitan Cunio steht inmitten dieses Nichts. In dem Raum, wohin er mit seiner Frau und seinen Kindern rannte, als am 7. Oktober frühmorgens Raketen flogen. Er ging hinein, das dicke Eisenfenster war dicht, Eitan schob den Metallbolzen vor das Türschloss und stellte sich vor die Tür. Er hörte, wie Terroristen kamen, plötzlich roch er Benzin, sah es durch den Türschlitz spritzen, dann Rauch.
Eitan beschreibt die schlimmsten Momente mit Tränen in den Augen, mit der erlebten Furcht des Erstickens in der Stimme, mit dem gezeichneten Gesicht eines Menschen, der sich von seiner Familie im Angesicht des Todes verabschiedet hat. Er beschreibt die letzten Kurznachrichten, die er mit seinem Zwillingsbruder David austauschte, die letzten SMS, die er von Ariel, dem jüngeren Bruder, erhielt. »Wir sind in einem Horrorfilm gelandet«, schrieb Ariel am Morgen des 7. Oktober.
Eitan und seine Familie haben das Massaker in Nir Oz überlebt. Ariel und David sind seit jenem Tag in der Hand von Hamas-Terroristen. Auch Yarden Bibas, seine Frau und die beiden Söhne wurden am 7. Oktober entführt. Unter Berufung auf die Hamas meldeten Medien am Dienstag, die Leichen von Shiri, Ariel und Kfir Bibas würden am Donnerstag im Rahmen des zweiten Geiseldeals zurückgegeben. Von israelischer Seite gab es zunächst keine Bestätigung dafür. Yarden Bibas und Arbel Yehoud, die Partnerin von Ariel Cunio, wurden im Januar 2025 von der Hamas freigelassen. Der israelische Sender n12 berichtete am Montag, von David Cunio gebe es ein Lebenszeichen.
Regisseur Tom Shoval und die Cunios verbindet eine lange Freundschaft
Regisseur Tom Shoval und die Cunios verbindet eine lange Freundschaft, die beim Casting zu HaNoar – Youth begann. Sie drehten gemeinsam, reisten zu Filmvorführungen. Die beiden jungen Männer aus dem Kibbuz, der ihnen Zuhause und Heimat war, heirateten in den Jahren danach ihre Freundinnen, wurden Väter, arbeiteten weiter in Nir Oz. Shoval drehte neue Filme, die international Anerkennung fanden.
»David und Eitan sind in meinem Leben verankert. Dass sie auseinandergerissen wurden, ist für mich unvorstellbar. Ich fragte mich damals: Was kann ich tun?« Er habe komplett unter Schock gestanden, sagt Shoval der Jüdischen Allgemeinen: »Nicht nur, weil die Realität so verrückt war, sondern auch, weil ich das Gefühl hatte, dass der Film, den ich mit David und Eitan gedreht habe, mir irgendwie entrissen wurde. Ich kann ihn jetzt nicht mehr so sehen, wie ich ihn sehen wollte. Er hat sich verändert.«
Jetzt also der filmische Brief an David. Er ist traurig, er schmerzt, er zeigt eine unfassbare Tragödie, und die unbeschwerten Momente sind mit dem Wissen, was später geschah, und dem Nichtwissen, was ist, kaum auszuhalten. Der Film gibt nur eine Ahnung davon, was die Familien ertragen müssen. Jeden Tag, jede Nacht.
Eitan kann sein Abbild im Spiegel kaum ertragen, weil es ihn an David erinnert.
Jeden Moment, wenn die Nichten von Eitan – die damals dreijährigen Zwillinge Yuli und Emma, die im November 2023 gemeinsam mit ihrer Mutter Sharon Aloni Cunio beim ersten Geiseldeal aus Gaza freikamen – ihren Onkel für ihren Vater halten und dann weinen, weil er es nicht ist. (Welche Qual, sagt Eitan mit zitterndem Kinn, muss es für alle sein, ihn zu sehen. Ihn, den eineiigen Zwilling, das Abbild seines Bruders, das er selbst im Spiegel kaum ansehen kann.)
Jeden Freitagabend, wenn eine schöne Erinnerung die Familie kurz lachen lässt und sich Luis Cunio fragt: Warum lachst du? Deine Kinder sind in Gaza. Luis und Sylvia, die Eltern, die 1988 aus Argentinien nach Israel einwanderten, um im Kibbuz zu leben, und nun in einem Hochhaus wohnen. Die Mutter schaut vom Balkon in die Wolken, sie hofft auf ein Zeichen von Gott, dass ihre Söhne aus Gaza zurückkehren. Sie haben wieder angefangen zu rauchen, erzählt Luis Cunio. Der Pakt der Eltern: damit aufzuhören, wenn ihre Kinder da sind. Könnten sie doch morgen schon aufhören! Das ist der Gedanke, der in jeder Minute des Films mitläuft. Hätte dieser Film doch nie gedreht werden müssen!
Einfach nur der Wunsch, dass David zurückkommt
»Mein Wunsch ist einfach nur, dass David freikommt«, bestätigt Shoval. »Wenn er zurückkommt, wird dieser Film eine richtige Schlussszene bekommen.«
Manchmal entstehen aus größten Tragödien die besten Filme. Michtav LeDavid ist – nicht zuletzt wegen der Reflektiertheit des filmischen Ich und des Regisseurs – eine Sternstunde des Kinos. »Durch das Kino kann ich David und das, was passiert ist, ohne Filter zeigen. Das hat mir sehr viel Hoffnung gegeben«, sagte Shoval nach der Premiere im Haus der Berliner Festspiele. »Die Realität hat das Kino gekapert, aber das Kino holt sich das Leben zurück.«
Absichtlich habe er keine Videos vom Überfall der Hamas am 7. Oktober in seinen Film integriert. Denn der Horror blende und überblende, was wichtig ist, so der Regisseur. Von Shiri Bibas habe er nicht das »ikonische« Video ihrer Entführung zeigen wollen, nicht die schreckliche Szene, in denen die Mutter verzweifelt versucht, ihre kleinen rothaarigen Söhne zu beschützen. Sondern eine strahlende junge Frau. Menschlichkeit. Und Leben.