Was tut der Mensch, wenn er eigentlich nichts mehr zu tun braucht? Er könnte seinen Rückzug bekannt geben. Und genau das hat Paul Simon getan: Kürzlich hat er sein letztes Konzert in New York gegeben, von nun an wird er allerhöchstens noch für wohltätige Zwecke auftreten.
Gleichzeitig könnte man sich das Alte noch einmal vornehmen, das, was irgendwie immer unter die Räder gekommen ist, ein ganz persönliches Déjà-vu. Auch das hat Paul Simon nun getan. Sein Album In the Blue Light besteht aus alten Songs, die zum Teil noch aus der »Simon & Garfunkel«-Zeit stammen, es aber nicht in die Charts, nicht zu einem seiner zwölf Grammys oder zu sonst irgendeinem seiner großen Erfolge gebracht haben. Paul Simon stöbert in seinem Lebenswerk, um das Vergessene neu in die Regale zu stellen. Und, um es vorweg zu sagen: Herausgekommen ist große, wenn auch nicht ganz leicht verdauliche Kunst!
Erinnerung Der 77-jährige Paul Simon hat kein »Best Of«-Album aufgenommen, sondern eher ein »Forgotten by complexity«-Album. Eine Stückesammlung, in der stets durchzuhören ist, was der linkshändige Gitarrist immer war und als was er gern in Erinnerung bleiben möchte: ein Liedermacher, der weniger dem Zeitgeist als eher dem Klassischen verbunden ist, ein Franz Schubert des 21. Jahrhunderts, dem es weniger um politische Dogmen als um den leidenschaftlichen, sehnsüchtigen, liebenden und trauernden Menschen als um eigentliche politische Größe gegangen ist.
Simon, ein Nachkomme ungarischer Juden, kam in Newark zur Welt, wuchs in Queens auf und zog 1964 nach England. Schnell schwamm er auf der Folk-Welle und feierte, gemeinsam mit Art Garfunkel, mit »The Sound of Silence« seinen ersten Welterfolg. Und es wäre vielleicht vermessen, In the Blue Light als Vermächtnis zu verstehen. Aber es ist ein Album, mit dem sich Simon als jemand ins Gedächtnis bringt, dem es um Seelenabgründe, komplexe Erzählungen, um Abschweifungen und Verästelungen geht, die keine Rücksicht auf den Mainstream nehmen. Lieder aus einer Welt, die oft komplizierter ist als ein Nummer-eins-Hit.
»Ich persönlich bevorzuge Musik, für die man sich Zeit nehmen muss«, sagte Paul Simon einmal dem »Spiegel«. Die Natur eines Popsongs aber sei, dass er schnell zugänglich sein muss, so der Musiker. »Das Handwerk des Pop besteht aus der Verbindung von einfachen Botschaften mit eingängigen Melodien. Ich weiß, wie schwierig es ist, simple Songs zu schreiben.« Mit dieser Schwierigkeit hält er sich inzwischen nicht mehr auf. Paul Simon macht es sich leichter, indem er es seinen Hörern schwerer macht – und das ist wunderbar!
Melancholie Die gesamte Bandbreite seines Könnens offenbart sich an wunderbaren und wundersamen Songs wie »René and Georgette Magritte with Their Dog After the War« aus dem Album Hearts And Bones (1983). Einige Bläser füllen nun das zarte Streicher-Arrangement, aber überall wird durchhörbar: Simon geht es hier nicht um den puren Effekt, sondern darum, ein kammermusikalisches, allgemeingültiges »Lied« im uralten Sinne des Wortes vorzustellen, ein Lied voller Melancholie, in dem die Pinguine gemeinsam mit den fünf Heiligen zu tanzen beginnen.
Simon nimmt sich außerdem Songs wie »Darling Lorraine« von You’re the One (2000) vor, in dem offensichtlich wird, dass er zuweilen vielleicht auch zu viel wollte, oder den Boogie-Blues »One Man’s Ceiling is Another Man’s Floor« – eines der früheren Lieder. Für Paul-Simon-Fans sind Songs wie »The Teacher«, »Questions for the Angels«, »Love« oder »Can’t Run But …« die logischen weiteren Titel dieses Albums. Und für jeden, der mehr vom Pop erwartet als Eingängigkeit, sind sie in den neuen Arrangements wirkliche Entdeckungen.
Der Schlüssel zu diesem wunderbaren Album ist die Nachtklub-Ballade »How The Heart Approaches What It Yearns«. Ihr hat Simon nicht nur den Titel des Albums »In the Blue Light (of the Belvedere Motel)« entliehen, sondern auch die Stimmung: sentimental, melancholisch, ein andauernder, sehnsüchtiger Versuch, den Menschen zum Guten zu führen und das Herz dort ankommen zu lassen, wonach es heimlich schreit.
erbe »Ich glaube nicht, dass sich mein Kopf mit dem beschäftigt, was man ein ›musikalisches Erbe‹ nennt. Dafür wird die Zeit sorgen«, sagte Paul Simon einmal. »Meine Songs leben so lange, wie sie eben leben. Und manchmal nehmen sich dann sogar Musikstudenten einige meiner Stücke vor, um sie zu analysieren. Aber all das interessiert mich nicht. Was bleiben wird, daran verschwende ich keinen Gedanken – das würde meiner Arbeit nur im Wege stehen.«
Tatsächlich scheint es Simon in seinem neuen Album nicht um das eigene Erbe zu gehen, nicht um die musikalische Ordnung, sondern eher darum, sich ganz persönlich noch einmal mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nicht unter musikwissenschaftlichen Vorzeichen und schon gar nicht, um sein Erbe zu sortieren – sondern als sinnlicher Prozess, um das Tiefe, das Komplexe, vielleicht den wahren Paul Simon an die Oberfläche zu spülen.
Paul Simon: »In the Blue Light«. Sony 2018