Polen 1962. Anna ist als Waise von Nonnen in einem Kloster aufgezogen worden. Kurz bevor sie für immer dem Orden beitreten wird, soll sie plötzlich ihre Tante Wanda aufsuchen. Fast unwillig begibt sie sich zu dieser ihr unbekannten Frau, die ihr im Nachthemd die Tür öffnet und schnell noch einen Liebhaber verabschiedet. Wanda beäugt das junge Mädchen in seiner Nonnenuniform ebenso spöttisch wie liebevoll. Sie eröffnet ihr, dass sie Jüdin ist und eigentlich Ida Lebenstein heißt. Idas Eltern kamen während der deutschen Besatzung ums Leben.
Wanda und Anna/Ida begeben sich auf eine schmerzvolle Reise in die Vergangenheit. Die beiden Frauen könnten kaum unterschiedlicher sein. So betet das Mädchen inbrünstig auf einer Landstraße vor einer Madonna, während Wanda gelangweilt vor ihrem Auto steht und raucht. Diese extravagante Frau war in der Stalinzeit eine knallharte Richterin und brachte zahlreiche »Volksfeinde« an den Galgen. Aber nun widert das Leben Wanda meist nur noch an. Sie sucht nach Zerstreuung durch Zigaretten, Männer und Alkohol. Die Bekanntschaft mit Ida lässt sie noch einmal aufleben.
Alltag In klarem Schwarz-Weiß erzählt Pawel Pawlikowski vom Nachkriegspolen, zwei ungewöhnlichen Frauen und dem schwierigen Verhältnis zwischen Juden und Polen. Der Regisseur beleuchtet mit großer Präzision und Feinfühligkeit unterschiedliche Aspekte des polnischen Alltags in den 60er-Jahren. Für die meisten geht es einfach nur ums Überleben. Das Stöbern in der Vergangenheit stört da nur. In den Häusern von Juden leben plötzlich katholische Polen. Auch in den Kneipen will sich kaum jemand an die Vertriebenen und Ermordeten erinnern. Pawlikowski zeigt das fast beiläufig, aber genau dadurch umso prägnanter.
Für Ida ist Pawlikowski in seine polnische Heimat zurückgekehrt, die er Anfang der 70er-Jahre im Alter von 14 Jahren mit seiner Mutter verlassen hatte. Bekannt wurde er in Deutschland vor allem durch seinen dritten Spielfilm My Summer of Love um zwei junge Mädchen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Auch in seinem neuen Film, seinem bisher stärksten Werk, schaut er einer jungen Frau beim Erwachsenwerden zu.
In den Hauptrollen sieht man die unbekannte Agata Trzebuchowska als Ida, die Pawlikowski in einem Warschauer Café entdeckte. Sie versteckt ihre Empfindungen, Gedanken, aber auch ihre Weiblichkeit hinter der Strenge ihrer Nonnenkleidung. Wenn sie das erste Mal ihre Haare offen trägt, ein Kleid anzieht oder sich mit einem charmanten Jazzmusiker unterhält, wirkt sie wie verwandelt, anmutig und leicht betörend. »Sie wissen gar nicht, welche Wirkung Sie haben«, sagt der junge Mann zu ihr. Aber auch Agata Kulesza als Wanda ist eine Offenbarung. Sie spielt diese vom Leben gehärtete Frau mit einer Lebenswut und Intensität, die unter die Haut geht.
betörend Nicht nur inhaltlich ist Ida eine kleine Sensation. Der im beinahe quadratischen 4:3-Format gedrehte Film besticht durch mitunter radikal komponierte Bilder. Die Figuren befinden sich manchmal derart nah am unteren oder äußeren Bildrahmen, dass die Untertitel nach oben wandern, damit sie nicht die Gesichter verdecken. Gerade durch diese betörend suggestiven Bilder gelingt es Pawlikowsi, das Polen seiner Kindheit sinnlich fühlbar nachzustellen. Trotz des vielen Grau, der kaputten und nasskalten Straßen ist Ida kein deprimierender Film. Pawlikowski erinnert auch an das pralle Leben in den dunklen Hotels, an den Jazz und eine gewisse Hoffnung auf neue Zeiten.
Ida/Anna muss sich am Ende entscheiden, welches Leben sie fortführen will. Den Zuschauer hat sie da längst erobert. Während der Film in Polen nur mittelmäßigen Erfolg hatte, erlebte er in Frankreich einen ungeahnten Triumph. Mitte Februar gestartet, entzückte er Publikum und Kritiker und schaffte bisher sensationelle 500.000 Zuschauer. In Paris redet man bereits vom »phénomène Ida«.
Pawel Pawlikowski: »Ida«. PL 2013, 80 min., Mittwoch, 9. April, 21.30 Uhr, im Rahmen des JFFB im Kino Arsenal, Berlin-Kreuzberg