Eigentlich mag man es kaum glauben. Beim Blättern im Sammelband Judenhass im Kunstbetrieb erschrickt der Leser über die Intensität, mit der ausgerechnet die Welt der Künste – Literatur, Comic und Bildende Kunst, Musik, Theater, Tanz und Film – nach dem 7. Oktober 2023 in Israel- und Judenhass hinabgeglitten ist.
»Dieser infolge des Massakers deutlich hervorbrechende Antisemitismus im Kunstbetrieb, der vorher schon latent vorhanden gewesen ist und sich auch immer wieder gezeigt hat, aber vielfach im öffentlichen Diskurs nicht so ernst genommen wurde, prägt als Hass die Atmosphäre im Kunstbetrieb seitdem«, so Neofelis-Verleger Matthias Naumann in seiner Einleitung. Er versammelt darin Beiträge von Akteuren aus den jeweiligen Kultursparten, die Berichten aus dem Inneren eines Vulkans gleichen.
Jonathan Guggenberger schildert einen Venedig-Besuch während der Eröffnungstage der letzten Kunstbiennale
Jonathan Guggenberger etwa schildert einen Venedig-Besuch während der Eröffnungstage der letzten Kunstbiennale: Die Lagunenstadt war voller Anti-Israel-Aktivisten, von denen manche die »Intifada« forderten. In den engen Gassen Venedigs grüßte man sich mit »Free Palestine«. Wie alle Beiträger des Bandes belässt es Guggenberger nicht bei Anekdoten über den im Annus horribilis 5784 alltäglich gewordenen Schrecken. So fragt er: »Wie konnte sich der Diskurs in der Kunstwelt so verschieben, dass Intifada nach Revolution und die Kritik von Antisemitismus nach staatlicher Repression klingt?«
Auch die Schriftstellerin Dana von Suffrin beobachtet eine Diskursverschiebung: »Es ist normal geworden, Israel das Existenzrecht abzusprechen, Al Jazeera und Hamas-Propaganda zu teilen, zur Teilnahme an extremistischen Palästina-Demonstrationen aufzurufen. Antizionismus und Antisemitismus sind nicht nur salonfähig geworden, sondern auch: universitätstauglich, bühnenmöglich, medienüblich.«
Ihre Beobachtungen zur Reaktion des Literaturbetriebs decken sich mit Esther Slevogts Bericht aus der Theaterwelt: Auf das große Schweigen in den ersten Tagen nach dem Massaker folgte eine Eruption offen antizionistischer bis antisemitischer Äußerungen. Akteure und Institutionen, die sich mit Israel solidarisierten, sahen sich verbaler Gewalt oder Schlimmerem ausgesetzt.
Der Leiters der Oberhausener Kurzfilmtage Lars Henrik Gass wurde mit einer Boykottkampagne überzogen
Manche wurden – wie Lea Wohl von Haselberg am Beispiel des Leiters der Oberhausener Kurzfilmtage, Lars Henrik Gass, schildert – mit Boykottkampagnen überzogen.
Verwunderung und Verstörung, Ernüchterung und Desillusionierung durchziehen viele der Beiträge, beispielsweise über die »Rücksicht und Offenheit gerade gegenüber islamistischen Terroristen in der Linken und im Kunstbetrieb« – eine kognitive Dissonanz, die Matthias Naumann engagiert beleuchtet. Oder über die Rolle von Jüdinnen und Juden in Deutschland, die sich dem allmählich zum Mainstream gerinnenden radikalen Antizionismus nicht anschließen möchten: Sie werden, so Dana von Suffrin, »immer öfter als rechts markiert oder gelten (…) als verängstigte, provinzielle Zentralrat-Anhänger«.
Dass Hinweise auf antisemitische Exzesse schnell als »Angriff auf die Kunstfreiheit« abgeschmettert werden, ist spätestens seit der skandalträchtigen documenta fifteen bekannt. Nicht nur im Hinblick auf die Entwicklungen seit dem 7. Oktober 2023 konstatieren Stella Leder und Bruno Plassmann: »Die Selbstregulierung des Kulturbetriebs bezogen auf Antisemitismus funktioniert nicht.« In ihrem Beitrag listen sie mögliche kulturpolitische Maßnahmen gegen Judenhass auf – »auch jenseits von Zwang und Verboten«.
Es gebe vieles, was getan werden könne, betonen die Gründer des Instituts für Neue Soziale Plastik. Bei allem Bemühen um konstruktive Vorschläge bleibt es aber auch ihnen nur, zur Kenntnis zu nehmen, »dass – mit Ausnahme der Diskussionen um Antisemitismusklauseln – bisher nichts geschehen ist«.
Matthias Naumann (Hg.): »Judenhass im Kunstbetrieb«. Neofelis, Berlin 2024, 214 S., 18 €