Biografie

Aus dem Bauch heraus

Norman Ohler erzählt die Geschichte der Widerstandskämpfer Harro und Libertas Schulze-Boysen

von Wolf Scheller  09.12.2019 13:32 Uhr

Harro Schulze-Boysen (1909–1942) Foto: dpa

Norman Ohler erzählt die Geschichte der Widerstandskämpfer Harro und Libertas Schulze-Boysen

von Wolf Scheller  09.12.2019 13:32 Uhr

Der Widerstand gegen Hitler in Deutschland hatte viele Gesichter. Die meisten Namen hat der Wind der Geschichte allerdings längst verweht, nur wenige können sich heute noch ein Bild von den Akteuren der verschiedenen Widerstandsgruppen machen, die sich vergeblich gegen den Diktator stellten.

Eine der größten Gruppen war der Kreis um den Luftwaffenoffizier Harro Schulze-Boysen und seine Frau Libertas. Beide wurden nach der Zerschlagung ihrer Organisation, von der Gestapo unter dem Namen »Rote Kapelle« geführt, in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Mit ihnen mehr als 44 weitere Angehörige dieser etwa 150 Mitglieder umfassenden Gruppe.

»rote kapelle« Nach dem Krieg haben sich Überlebende der »Roten Kapelle« immer wieder gegen den Vorwurf des Landesverrats verteidigt. Erst 2006 wurde das Urteil des Reichskriegsgerichts im Prozess gegen Schulze-Boysen vom Dezember 1942 aufgehoben. Dabei ist die Geschichte der »Roten Kapelle« längst von der Wissenschaft gründlich erforscht.

Der Autor Hermann Ohler hat sich zuletzt mit dem Drogenkonsum im Dritten Reich befasst (Der totale Rausch). Irgendwann hat er sich dann an ein Gespräch mit seinem Großvater erinnert, bei dem es um die Deportation der Juden ging.

Jahrzehnte später – 2017 – trifft der Autor in Berlin den Historiker Hans Coppi, dessen Eltern in der »Roten Kapelle« aktiv waren. Das Buch, das er jetzt als »Sachbuch« vorlegt, nennt er im Untertitel »Eine Geschichte von Liebe und Widerstand«.

KRIEG Ohler versucht, diese Story mit Verve voranzutreiben, wahrscheinlich in der Erwartung, dass sich eine Erzählung, in der es um den vergeblichen Widerstand gegen eine Mörderbande geht, dann besser lesen lässt.

Ausführlich stellt er den familiären Hintergrund der beiden Protagonisten heraus: Harro, ein »glühender Deutscher«, zu dessen Vorfahren der Admiral von Tirpitz gehört, oder auch der berühmte Soziologe Ferdinand Tönnies (ein Onkel). Und die lebhafte, gut aussehende Libertas Haas-Heye kommt auch aus gehobenem Milieu. Ein Großvater war Philipp von Eulenburg, dessen Familie auf Schloss Liebenberg wohnte, wo sich dazumal auch der letzte Kaiser zu amüsieren pflegte.

Beide wurden nach Zerschlagung der »Roten Kapelle« in Plötzensee hingerichtet.

Nun sind Harro und seine Libertas recht unterschiedlich. Harro hat schon als junger Student als Mitherausgeber kritischer Schriften die Obrigkeit provoziert.

Nach Hitlers Machtergreifung wird er von der SS festgenommen und gefoltert, während Libertas im März 1933 in die NSDAP eintritt. Während Harro erleben muss, wie sein jüdischer Freund Henri Erlanger von der SS zu Tode geprügelt wird (Ohler weiß, dass dies der erste Mord an einem Juden war), dockt die umtriebige Libertas bei einem Filmunternehmen an. Harro will sich am Regime rächen. Er schlägt die Offizierslaufbahn ein und gelangt mit seinem Freund Arvid Harnack im Luftfahrt- und Wirtschaftsministerium an geheime Informationen über die bevorstehende Kriegsführung.

GESTAPO Insgeheim setzen Harro und Libertas ihre konspirative Arbeit fort, verteilen Flugblätter, versuchen, Juden und politisch Verfolgten zu helfen. Harro, so Ohler, plante die »Unterwanderung bestehender Organisationen«, ähnlich wie Rudi Dutschke mit seinem »Marsch durch die Institutionen«. Ein erstaunlicher Vergleich.

Aber Ohler weiß noch mehr: Harro »will, wie es seinem Charakter entspricht, hoch hinaus«, dieser »schlank gewachsene Torso« – »der perfekte Deutsche«, der »verdammt gut aussieht«. Blöd nur, dass Harro, so Ohler, »seit der Folter Probleme hat, Nähe zuzulassen«. Das geht zulasten von Libertas, die sich, lebenslustig, wie sie nun einmal ist, auf eine Dreiecksbeziehung einlässt. Der Dritte im Bunde ist der junge Schriftsteller Günter Weisenborn. Harro hat nichts dagegen einzuwenden: »Sie schreibt und liebt nun einmal gern, was ist daran falsch?«

Harros Informationen über den bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion gelangen über den russischen Geheimdienstler Korotkow (ein »bohèmehafter Russe«) nach Moskau, werden aber von Stalin nicht als glaubhaft angesehen. Als die Funkverbindung mit dem sowjetischen Geheimdienst von der deutschen Abwehr geknackt wird, sind auch Harro und seine Mitstreiter enttarnt.

Harro, der zwischenzeitlich auch eine Affäre mit der Schauspielerin Stella Mahlberg hat, versöhnt sich mit seiner Libertas. Beide werden von der Gestapo festgenommen und zwei Tage vor Weihnachten 1942 hingerichtet. Des Autors Urteil über Libertas: »Sie hat alles, was sie tat, nicht aus rationaler Überzeugung getan, sondern aus dem Bauch heraus.« Das passt zum Erzählstil des Autors.

Norman Ohler: »Harro & Libertas. Eine Geschichte von Liebe und Widerstand«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 496 S., 22 €

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