Geschichte

Aufstand der Verzweifelten

Die KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau Foto: imago/sepp spiegl

Widerstand war in Konzentrationslagern schwieriger als außerhalb und für jüdische Häftlinge schwieriger als für nichtjüdische.  Die enge Überwachung und Unterdrückung trugen genauso dazu bei wie die systematische Unterernährung. Die allermeisten Insassinnen und Insassen waren zu entkräftet und zu sehr damit beschäftigt, auch nur den nächsten Tag oder die nächste Woche zu überleben, um ernsthaft konspirieren zu können.

Die in diesem System Bessergestellten wie Kapos und Funktionshäftlinge wiederum hatten kaum Gründe, um sich einer Untergrundbewegung anzuschließen, denn deren Absichten gefährdeten ihre Stellung. Die Berichte über kraftvolle Widerstandsorganisationen in Lagern sind daher meist übertrieben. 

Die größten Revolten unternahmen Jüdinnen und Juden. Ausgerechnet diejenigen, die am härtesten verfolgt wurden und sowieso der Vernichtung anheimfallen sollten, wehrten sich. Sie trieb die Einsicht an, dass der Holocaust als deutsches Staatsverbrechen keine Möglichkeit zum Überleben vorsah. Noch schmerzlicher war freilich die Erkenntnis, dass andere nicht für sie kämpfen würden. Natürlich gab es Hilfe, aber mit der Deportation war der Zug im wahrsten Sinne des Wortes abgefahren: In den Lagern waren sie auf sich gestellt. Die Befreiung blieb ein ferner Traum.

Die Männer galten als Archetypen jüdischer Kollaborateure

Einer der bemerkenswertesten jüdischen Kämpfe gegen den Holocaust ereignete sich am 7. Oktober 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort erhob sich das Sonderkommando, also die Männer, die für die Deutschen die Krematorien bedienen und die Leichen aus den Gaskammern abtransportieren und dann verbrennen mussten.

Ihr Schicksal ist lange ignoriert worden, denn die Männer galten als Archetypen jüdischer Kollaborateure: Ohne ihre Arbeit hätte die SS den kompletten Ablauf der Vernichtung selbst durchführen müssen; zugleich waren die Häftlinge des Sonderkommandos privilegiert, erhielten bessere Essensrationen und hatten, jenseits der Tätigkeit in den Krematorien, einen weniger fremdbestimmten Alltag mit gewissen Handlungsspielräumen.

Die Angehörigen des Sonderkommandos waren genauso mit dem eigenen Tod bedroht wie alle anderen in Birkenau ankommenden Juden.

In den Aussagen vielen Auschwitz-Überlebender firmierten sie deshalb als Abschaum, als Handlanger der Deutschen. Doch diese Täter-Opfer-Umkehr verkennt, dass die Angehörigen des Sonderkommandos ganz genauso mit dem eigenen Tod bedroht waren wie alle anderen in Birkenau ankommenden Jüdinnen und Juden: Wenn sie die auferlegten Aufgaben nicht ausführten, wurden sie ermordet; und wenn sie es taten, hatten sie sich selbst lediglich zusätzliche Tage vor dem eigenen Tod erkauft, denn die SS tötete die Sonderkommandos regelmäßig und ersetzten sie durch Neuankömmlinge. Die »Zusammenarbeit« mit den Deutschen beruhte also nicht auf einer freien Entscheidung – oder eher: sie beruhte auf einer Entscheidung ohne echten Entscheidungsspielraum.

Allerdings trafen Häftlinge des Sonderkommandos den bewussten Entschluss, Widerstand zu leisten. Salmen Gradowski, dessen Aufzeichnungen nach der Befreiung in Auschwitz geborgen werden konnten, berichtet darin von seinem bevorstehenden Tod, weil er an einem Aufstand teilnehmen wolle – tatsächlich war er einer der Anführer –, um selbst ein aktives Zeichen zu setzen:

»Wir, das Sonderkommando, wollten schon lange unserer grausamen, schauerlichen, durch Tod erzwungenen Arbeit ein Ende machen. Wir wollten eine große Sache durchführen. Aber die Lagermenschen, sowohl ein Teil der Juden, Russen als auch Polen, haben uns mit allen Mitteln zurückgehalten und es und aufgezwungen, dass wir den Termin unserer Revolte hinausschöben. Der Tag ist nahe, kann sein heute, kann sein morgen.«

Die Revolte war nicht als kollektiver Selbstmord geplant

Wie bereits in Sobibor oder Treblinka war diese Revolte nicht als kollektiver Selbstmord geplant, doch den Häftlingen des Sonderkommandos war sehr wohl bewusst, wie gering ihre Erfolgsaussichten waren. Dennoch planten sie einen Ausbruch, um danach zu berichten – wofür allerdings ein Aufstand nötig war, denn ein Entkommen auf andere Weise war diesen Männern nicht möglich. Ihre Schriften verbargen sie zuvor, als eine Art Gedächtnisspeicher, um so eine zusätzliche Möglichkeit für Zeugenschaft zu kreieren.

Planungen für eine Erhebung gab es bereits im Frühsommer 1944, wobei nicht nur die sprachlichen Gräben zwischen den Mitgliedern des Sonderkommandos – Juden aus Griechenland und Ungarn, Polen und Westeuropa –, sondern auch unterschiedliche Haltungen aufgrund der sephardischen und aschkenasischen Herkunft überwunden werden mussten.

Außerdem existierte in Auschwitz-Birkenau nicht nur ein Krematorium wie im »Stammlager«, sondern es gab vier, die in Fortsetzung der dort begonnenen Zählung mit den Nummern II bis V bezeichnet wurden; jeweils zwei davon standen nah beieinander, waren aber selbst dann noch durch Zäune voneinander getrennt. Das machte eine zusätzliche Koordination des gemeinsamen Vorgehens erforderlich.

Die komplexen Vorüberlegungen sollten zunächst Mitte Juni zu einem Aufstand führen – und mussten kurzfristig abgesagt werden.  Die SS zwang die Männer des Sonderkommandos Ende Juni außerdem dazu, nicht mehr in Baracken auf dem Lagergelände, sondern direkt auf dem Dachboden der Krematorien zu schlafen, was erneute Planänderungen erforderte, da die Bewegungsfreiheit der Häftlinge damit deutlich eingeschränkt war.

Währenddessen gelang es Rózia Robota, Ada Gertner, Regina Szafirsztajn und Ester Wajcblum, die im Frauenlager eingesperrt waren, über viele Wochen hinweg Schwarzpulver aus einer Zünderfabrik hinauszuschmuggeln; sie reichten das Material an andere Häftlinge weiter, die daraus etwa 30 Handgranaten herstellten und an das Sonderkommando übergaben.  Nach wie vor war es allerdings schwierig, einen geeigneten Termin für den Aufstand zu finden, an dem alle Rahmenbedingungen passten und vor allem wenige Deutsche anwesend waren.

Doch als die SS bei den Kapos des Sonderkommandos für den 7. Oktober eine Liste mit den Namen von 300 Männern für einen Außeneinsatz anforderten, sahen diese darin eine geplante Selektion, weil ihre momentane Zahl von 663 auf annähernd die Hälfte reduziert werden sollte. Unmittelbares Handeln war nun gefordert – unter einmal mehr von den Deutschen diktierten Bedingungen.

Am Mittag des 7. Oktober 1944 trafen sich die Anführer der Untergrundbewegung im Krematorium II und töteten zunächst den Oberkapo Karl Töpfer.

Am Mittag des 7. Oktober 1944 trafen sich die Anführer der Untergrundbewegung im Krematorium II und töteten zunächst den Oberkapo Karl Töpfer, der mit Verrat gedroht hatte; seine Leiche wurde in einen der Öfen geschoben und verbrannt. Kurz darauf kamen etwa 20 SS-Männer auf das Gelände des Krematoriums IV und verlangten und erhielten die Namensliste. Allerdings stellten sie fest, dass nicht alle der Genannten auch vor ihnen angetreten waren.

Allzu schnell hatte die SS die Lage wieder unter Kontrolle

Gerade als die SS mit dem Suchen beginnen wollte, ging der 54jährige Chaim Neuhof mit einem Hammer auf die Deutschen los. Andere Häftlinge folgten ihm mit allen Werkzeugen, die sie zur Verfügung hatten, vor allem Hämmer, Äxte und Steine. Mehr oder weniger gleichzeitig fing das Krematorium IV zu brennen an.

Doch allzu schnell hatte die SS die Lage wieder unter Kontrolle. Die Wachen zwangen die noch lebenden Häftlinge, sich auf den Boden zu legen, und erschossen fast alle von ihnen. Lediglich 44 der ursprünglich 324 Häftlinge der Krematorien IV und V überlebten den 7. Oktober. In den folgenden Tagen tötete die SS weitere bei den Krematorien verbliebene Häftlinge, als einzelne von ihnen erneut erfolglose Akte der Rebellion versuchten. Drei SS-Männer starben, weitere zwölf konnten die Aufständischen verwunden. Vor allem aber war das Krematorium IV soweit zerstört, dass es bis zur Befreiung des Lagers nicht mehr benutzt wurde.

Einem Verrat zum Opfer fielen Rózia Robota, Ala Gertner, Regina Safirsztajn und Ester Wajcblum, die am 10. Oktober verhaftet wurden. Doch trotz quälender Folter über viele Wochen verriet Robota, die in der Untergrundbewegung gut vernetzt war und über einige Kenntnisse verfügte, niemanden. Ganz im Gegenteil gab sie sich heroisch und erklärte gegenüber Mitgefangenen, ihr einziger Wunsch sei, dass der Widerstand weiterkämpfe. In ihrem aus dem Lagergefängnis herausgeschmuggelten Abschiedsbrief schloss sie mit dem Gruß »Seid stark und tapfer«. Gemeinsam mit ihren drei Helferinnen hängte die SS sie am 6. Januar 1945, drei Wochen vor der Befreiung des Lagers.

Mehr denn je gilt heute Salmen Gradowskis letzter Wunsch, den er kurz vor seinem Tod niederschrieb: »möge die Welt … einen Tropfen, ein Minimum von der schauerlichen, tragischen Totenwelt sehen, in der wir gelebt haben.«

Der Autor ist Professor für Holocaust-Studien an der Touro University Berlin.

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