Zeitgeschichte

Aufrechter Zickzackgang

György Dalos Foto: imago/Hoffmann

György Dalos, Sohn ungarisch-jüdischer Eltern, wurde 1943 als György Alfréd Deutsch in Budapest geboren, lebt heute in Berlin und ist inzwischen der wohl bedeutendste Vermittler ungarischer und osteuropäischer Geschichte. Der produktive Historiker ist freilich ebenso Erzähler, Roman­cier und Anekdotensammler – nicht zu vergessen sein Hintergrund als Dissident während der kommunistischen János-Kádár-Zeit, das Engagement in der ungarischen Menschenrechtsbewegung. Seine Erinnerungen Für, gegen und ohne Kommunismus beschreiben den faszinierenden Zickzackweg einer Selbstbefreiung und zunehmenden Souveränität.

Wer dieses Buch liest, macht die Erkenntnis spendende Erfahrung, dass historische Ereignisse keineswegs zwangsläufig zu einem bestimmten Verhalten führen, dass die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung keine klirrende Kausalkette ist, sondern eher widerspruchsreiches Wechselspiel. So hatten etwa die einrückenden Sowjetpanzer im aufständischen Budapest 1956 den damals 13-Jährigen noch keineswegs nachhaltig geprägt, denn wer in seiner Familie dem Holocaust knapp entronnen war, hatte das den Soldaten der Roten Armee zu verdanken, die im Frühjahr 1945 als Befreier gekommen waren.

STALINISMUS Weshalb aber war dann 1950, zur Zeit des rabiaten Hochstalinismus unter dem gefürchteten KP-Chef Mátyás Rákosi, der Familienname des Jungen auf Wunsch der Großmutter in »Dalos« magyarisiert worden? (»Hätte ich sie gefragt, dann wäre vielleicht als Antwort einer ihrer immer wiederkehrenden deutschen Lieblingssprüche gekommen: ›Für alle Fälle.‹«) Und weshalb reist später der wissbegierige junge Dalos, inzwischen überzeugter Kommunist und Student in Moskau, ausgerechnet ins entfernte Kirgisien, um dort den quasi pensionierten Diktator Rákosi zu interviewen? Vielleicht auch, um sich selbst gegen Lebenslügen und mythomanische Groß-Erzählungen zu wappnen.

Ein politisches Amt hat er nie angestrebt, weil er nicht über menschliche Schicksale entscheiden wollte.

Als Jewgenij Jewtuschenko, der literarische Jung-Star der vermeintlichen Reformära unter KPdSU-Chef Chruschtschow, sein berühmtes Poem »Babij Jar« über den Massenmord in jener Schlucht bei Kiew veröffentlicht, ist Dalos, zu dieser Zeit marxistischer Atheist ohne engere Beziehung zum Judentum, zutiefst aufgewühlt – und dann ebenso enttäuscht, als der allzeit geschmeidige Jewtuschenko nach einer antisemitisch geprägten Parteikritik sogleich verspricht, das Gedicht »im Sinne des proletarischen Internationalismus um ein paar Strophen zu ergänzen«.

DISSIDENZ Irgendwann ist Dalos jedenfalls fertig mit dem Sowjetkommunismus und wird, heimgekehrt nach Budapest, in den Jahren vor und nach 1968 zum Maoisten. Diese Phase erster, doch ideologisch ebenfalls rigider Dissidenz – Umsturzpläne gegen die als »reformistisch« geschmähte ungarische KP-Regierung, darauf folgende Verhöre, schließlich die Verhaftung wegen »maoistischer Umtriebe« – nimmt im Buch viel, doch nicht zu viel Raum ein, denn wichtiger ist das Resümee, das Dalos später zieht.

Denn hätte er nach 1989 nicht ebenfalls ein politisches Amt anstreben sollen, da er doch in der linksliberalen ungarischen Dissidentenszene inzwischen einen guten Namen hatte und darüber hinaus trotz aller Geheimdienst-Observierung immer wieder in den Westen reisen durfte und nun auch in Österreich und der Bundesrepublik als polyglotter Intellektueller bekannt war?

ANTISEMITISMUS Nein, denn: »Zum Glück war ich niemals in die Position gekommen, über menschliche Schicksale mitentscheiden zu müssen, aber wenn ich bedachte, dass ich mit meinem linksradikalen Revoluzzertum nur zehn Jahre früher, unter Rákosi, zum freiwilligen Helfer des staatlichen Terrors hätten werden können, lief es mir kalt den Rücken herunter.« Hinzu kam etwas, das nicht erst heute unter Ministerpräsident Viktor Orbán wieder virulent ist: »Selbst in den ruhigen Zeiten, in denen es offiziell keinen Antisemitismus gab, tauchte in intellektuellen Kreisen immer wieder die Frage auf, wer ›einer‹ und wer ›keiner‹ sei. Und darauf hatte ich keine Lust, schlicht gesagt: null Bock.«

Dalos’ Memoiren, die ihn – gewitzt, melancholisch, selbstkritisch und ohne jede Pose – auch im persönlichen und erotischen Tohuwabohu mit zahlreichen charakterlich faszinierend konturierten Frauen zeigen, enden Silvester 1989/90. Die Einreisesperre in die DDR ist da längst aufgehoben, und in Westberlin treffen sich die Freunde und Freundinnen aus Ost und West, um zu feiern, miteinander zu sprechen, sich zu erinnern. Vermutlich hofft nicht nur der Rezensent, dass György Dalos bald eine Fortsetzung folgen lässt.

György Dalos: »Für, gegen und ohne Kommunismus. Erinnerungen«. C.H. Beck, München 2019, 312 S., 26 €

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