Frau Gerstetter, Sie haben das Projekt »Wir werden Eure Namen rufen« initiiert. Worum geht es dabei?
Es ist ein Erinnerungsprojekt, das eigentlich schon 2010 begonnen hat. Damals saß ich bei der Schoa-Gedenkstunde im Bundestag und hörte die Rede von Schimon Peres. Mich hat seine Geschichte sehr beeindruckt: Peres erzählte von seinem Großvater, einem Rabbiner, der, in seinen Gebetsschal gehüllt, mitsamt seiner ganzen Gemeinde in der Synagoge verbrannt wurde. Es war sehr bewegend, wie er davon berichtet hat. Das, und auch meine Erfahrungen in meiner eigenen Familie, waren der Schlüsselmoment für mein Projekt.
Wie ist die Geschichte Ihrer Familie mit dem Projekt verbunden?
Als kleines Kind habe ich eine Großtante von mir in Haifa besucht und die Nummer auf ihrem Arm gesehen. Auf meine Frage, was das sei, hatte sie mich damals gefragt: Möchtest du das wirklich wissen? Dann hat sie mir ihre Geschichte erzählt. Und auch davon berichtet, dass ihre Kinder sich dafür überhaupt nicht interessierten. Sie haben ihr sogar Vorwürfe gemacht, wenn sie anfing, zu erzählen, was ihr in Ausschwitz widerfahren war. Ein Sohn sagte beispielsweise, es sei doch nicht seine Schuld, dass sie im Konzentrationslager war. Dieses persönliche Gespräch mit meiner Tante hat mich unheimlich stark geprägt und begleitet mich mein Leben lang.
Wie empfinden Sie das Gedenken heute?
Als ich damals im Bundestag saß und Schimon Peres sprechen hörte, dachte ich: Danach kann nichts mehr kommen. Dieses fast Rituelle, mit dem man jedes Jahr zum 27. Januar die gleiche Gedenkstunde begeht, hat mich persönlich gestört. Ich habe während der Rede beobachtet, dass die Leute die Augen schließen, und hatte das Gefühl, dass dies eine Stunde ist, die man zwar abhalten muss, aber die Leute sind nicht mehr so bewegt. Die Geschichten, die dort erzählt werden, scheinen sich für das Publikum zu ähneln. Ich habe also überlegt, was man dagegen tun kann, denn lange werden wir die Überlebenden nicht mehr unter uns haben. Auch meine Großtante ist schon alt. Und ich wollte diese Überlebenden mit der jungen Generation verbinden.
Sie haben dafür eine besondere Form gewählt, nämlich ein Blog, ein Kinderbuch und mehrere Konzerte.
Ich wollte das Erinnern für Jugendliche gestalten. Zum einen ist es eine Geschichte für Kinder ab acht Jahren, denn ich war selbst in diesem Alter, als ich das Gespräch mit meiner Großtante hatte. Ich möchte in diesem Kinderbuch auch jüdische Traditionen erklären, Feste beschreiben, sodass Kinder darüber mehr wissen. Denn nur Aufklärung wirkt Ressentiments entgegen.
Ist Ihnen die Aufklärung über die Schoa, die im Unterricht passiert, nicht ausreichend?
Sie ist zu gleichförmig. Ich glaube, man sollte die Schüler direkt mit einbeziehen, sodass sie sich mit der Geschichte einer bestimmten Person auseinandersetzten können. Das ist sehr entscheidend. Denn die Schüler sollen sich überlegen: Was hätte aus den Menschen werden können, hätte es die Schoa nicht gegeben?
Sie haben Ihr Projekt mit drei Konzerten begleitet und sich dafür drei spezielle Orte ausgesucht, nämlich Auschwitz, das Haus der Wannsee-Konferenz und am 27. Januar den Berliner Dom. Weshalb?
Ich möchte nicht, dass die Menschen in Auschwitz bleiben, sondern ich möchte sie symbolisch dort herausholen.
Bei diesen drei Auftritten gibt es auch Tanzperformances.
Die Performance erzählt die Geschichte der beiden Protagonistinnen Hannah, die Großtante der Kinderbuchillustratorin Inbal Leitner, und Rozsika, meiner Großtante, die beide ermordet wurden. Diese beiden Mädchen werden tänzerisch dargestellt. Der Schauspieler Michael Mendel wird über die beiden Mädchen erzählen und auch aus dem Kinderbuch lesen.
Mit der Berliner Kantorin sprach Katrin Richter.
Das Erinnerungskonzert findet am Montag, den 27. Januar um 20 Uhr im Berliner Dom statt. Avitall & Band und die Nir de Volff »Total Brutal Tanzcompagnie«
www.we-call-out.com