Das Gemälde gleicht einer Vorahnung der Katastrophe: Zutiefst verstört und in Gedanken versunken wirkt der eine Torarolle umklammernde fromme Jude links im Bild; verstummt ist die hinter ihm liegende, sonst laut und fröhlich aufspielende Violine; über dem Dorf im Hintergrund ziehen tiefschwarze Wolken auf und verdüstern das Sonnenlicht; ein sorgenvoll dreinblickender Engel steigt den Himmel empor.
Marc Chagall malte die »Einsamkeit« im Jahr 1933, und nicht umsonst gilt dieses Bild als Reaktion des Künstlers auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland.
RUNDGANG Das seit 1953 in der Sammlung des Tel Aviv Museum of Art befindliche Gemälde ist jetzt in der Frankfurter Schirn Kunsthalle zu sehen, wo es den Beginn eines opulenten Chagall-Ausstellungsrundgangs markiert.
Welt in Aufruhr heißt die Schau, die in sieben Kapiteln Marc Chagalls Schaffen in den 30er- und 40er-Jahren in den Blick nimmt. In dieser Zeit sehe man, so Kuratorin Ilka Voermann im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen, »wie stark Chagalls Kunst in seinem Leben verwurzelt ist, wie sehr er darauf reagiert«.
Die skizzierten Innenansichten von Synagogen wirken fast dokumentarisch.
Das Bild des vor allem in Deutschland als heiter und versöhnlich wahrgenommenen Malers möchte die Ausstellung korrigieren und den 1887 in einem Vorort von Witebsk (heute: Belarus) geborenen Künstler als wachen Zeitgenossen zeigen.
EXIL Dass die Schau, die unter anderem Chagalls amerikanische Exiljahre während des Zweiten Weltkriegs umfasst, durch Russlands Überfall auf die Ukraine zusätzliche Aktualität erfahren hat, möchte Voermann nicht in den Vordergrund rücken.
Vielmehr sei die Ausstellung »aus kunsthistorischem Interesse geboren«, auch sei der Titel vor Pandemie und Ukraine-Krieg entstanden.
Leihgaben aus russischen Museen seien nicht vorgesehen gewesen, sagt Voermann, denn dort finden sich vor allem Werke Chagalls aus den 1910er- und frühen 20er-Jahren. In Frankfurt werden zahlreiche Leihgaben aus internationalen Museums- und Privatsammlungen präsentiert, unter ihnen auch mehrere aus dem Tel Aviv Museum of Art und dem Israel Museum in Jerusalem.
KOTEL Erstaunlich nüchtern wirken die Anfang der 30er-Jahre im Zuge einer Reise ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina entstandenen Ansichten der Jerusalemer Kotel. Dort verzichtet Chagall auf symbolisch-poetisch aufgeladene Bildelemente.
Ebenso fast dokumentarisch muten die Innenansichten von Synagogen an, die der Künstler unter anderem in Safed in skizzenhafter Manier festhielt.
Anmutig wirkt auch Chagalls 1935 gemalte Innenraumdarstellung einer prächtigen Synagoge im damals polnischen Wilna, der heutigen Hauptstadt Litauens. Auch wenn die Kotel- und Synagogenansichten aus dem thematischen Fokus der Schau fallen, sind allein schon diese selten zusammen gezeigten Arbeiten unbedingt sehenswert.
Irritierend ist indes, dass im dazugehörigen Wandtext von Chagalls damaliger »Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität« die Rede ist, als habe die frühe Prägung in der chassidischen Welt des Schtetl zuvor keine Rolle in seinem Werk gespielt.
Die durch Revolution, Flucht und Krieg verlorene Welt seiner Kindheit beschwor Chagall sein Leben lang in »ikonischen«, irgendwann zu einer Chiffre geronnenen Bildkompositionen voller fliegender Schtetl-Bewohner, fiddelnder Musikanten, innig miteinander verbundener Brautpaare sowie großäugiger Hähne, Ziegen und Kühe. Auch in der Schirn begegnet der Ausstellungsbesucher stellenweise dem heimeligen und postkartentauglichen Chagall.
GEMÄLDE Aber da ist auch der wuchtige und fokussierte »Engelssturz« – ein Gemälde, das Marc Chagall seit 1923 mehrmals überarbeitete und erst im Jahr 1947 fertigstellte.
Düster wirkt die Szenerie: Die Flügel des kopfüber stürzenden Engels gleichen Flammen; der aufgeschreckt blickende Mann am linken Bildrand scheint zu fliehen; schützend umfasst er eine Torarolle. Das Dorf im Hintergrund ist von feuerroter Glut umgeben; und am rechten Bildrand ist eine gekreuzigte Jesusfigur zu erkennen.
»Der Engelssturz« ist vielleicht das stärkste Bild in dieser Schau, weil es die Dramatik der Zeitläufte in eine eindrückliche und spannungsvolle Bildkomposition übersetzt.
Die gekreuzigte Christusfigur wird zum Symbol für das Leiden des jüdischen Volkes.
Der gekreuzigte Jesus ist mehrfach in dieser Ausstellung zu sehen; Chagall stellt ihn als Tallit oder Tefillin tragenden Juden dar – in seiner Bildwelt wird die gekreuzigte Christusfigur gleichsam zum Symbol für das Leiden des jüdischen Volkes in der Schoa.
Ein Echo der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ist auch in einigen Werken spürbar, die nach 1945 entstanden: Symbolträchtig blutrot kommt etwa »Der gehäutete Ochse« von 1947 daher; das vor einer nächtlichen, verlassenen Schtetl-Kulisse gezeigte, geschlachtete Tier dominiert den Bildraum.
DORFLANDSCHAFT Einen heiteren, geradezu beschwingten Akzent setzt unterdessen »Die Kuh mit dem Sonnenschirm« aus dem Jahr 1946: Das fabelhafte, blauköpfige Tier schreitet – oder schwebt vielmehr –, einen Sonnenschirm haltend und vergnügt dreinblickend, über eine Dorflandschaft hinweg.
Selbst das Dunkelrot des Hintergrunds lässt hier nicht mehr an Feuer oder Blut denken, sondern eher Wärme assoziieren. Aus Einsamkeit wird Aufbruchsstimmung: Das aus dem New Yorker Metropolitan Museum of Art ausgeliehene Gemälde bildet einen wohlgesetzten Schlusspunkt dieser zur richtigen Zeit gezeigten Ausstellung.
Die Ausstellung »Welt in Aufruhr« ist noch bis 19. Februar 2023 in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main zu sehen.