»Untergetaucht«

Auf Überleben programmiert

Marie Jalowicz Simon erzählt ihrem Sohn, wie sie in Berlin die Nazizeit überstand

von Channah Trzebiner  10.03.2014 17:11 Uhr

Marie Jalowicz Simon Foto: Hermann Simon

Marie Jalowicz Simon erzählt ihrem Sohn, wie sie in Berlin die Nazizeit überstand

von Channah Trzebiner  10.03.2014 17:11 Uhr

Untergetaucht ist kein Kriminalroman, kein Unterhaltungsroman, kein Zeitroman, kein Bildungsroman. Und doch bietet das Buch dem Leser alles, was diese Romangattungen versprechen. Es ist ein ehrlicher, tabufreier Überlebensbericht einer jungen Jüdin im nationalsozialistischen Berlin.

Mehr als 50 Jahre nach dem am Wannsee gefällten Beschluss, Deutschland und Europa »judenrein« zu machen, erzählt Marie Jalowicz Simon zum ersten Mal ihr Leben. Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge im Berliner Centrum Judaicum, stellte am 26. Dezember 1997 ein Diktiergerät auf den Tisch in seinem Elternhaus und sagte zu seiner Mutter: »Du wolltest doch immer deine Geschichte erzählen.« Auf 77 Tonbändern beschreibt Jalowicz Simon daraufhin, was es für sie hieß, sich Tag für Tag an einem Ort durchzuschlagen, dessen Bewohner wild entschlossen waren, sie systematisch umzubringen. Irene Stratenwerth und Hermann Simon erstellten auf der Grundlage der Tonbandaufnahmen schließlich das Buchmanuskript.

Scheinehe Bemerkenswert früh erkennt die damals 19-Jährige, dass sie nicht »mitgehen« darf, denn das, weiß sie, wäre der sichere Tod. Sie ist fest entschlossen, sich vor der bevorstehenden Deportation zu retten. Sie braucht also falsche Papiere, Verstecke und Menschen, die ihr helfen. Sie versucht, sich durch eine Scheinheirat zu retten oder nach Palästina zu fliehen. Beides vergeblich. In feindlicher Umgebung muss sie untertauchen und findet ein Versteck bei einem niederländischen Arbeiter.

Das Einmalige und Besondere an Jalowicz Simons Erzählungen ist, dass in ihnen trotz der aussichtslosen Lage, in der sich Juden während der Nazizeit befanden, nichts Hilfloses, nichts Frustriertes, nichts Fassungsloses, kein Moment des Aufgebens anklingt. Jalowicz Simon schaltete auf Überleben. Das bedeutete für die junge Frau, keinen Fehler machen zu dürfen, niemandem vertrauen zu können: Jedes Gegenüber, jeden Nachbar, jeden Aufseher während der Zwangsarbeit, jede Person, die ihr begegnete, musste sie psychologisch analysieren und prüfen, ob sie Feind oder Freund ist. Trotz aller Hindernisse und der lebensbedrohlichen Umstände war Jalowicz Simon sicher: »Ich werde leben.«

In jeder Zeile des Buches kommt dieser unbedingte Lebenswille zum Ausdruck. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1941 ist sie ganz auf sich gestellt. Ihr jüdisches Umfeld in Berlin verstirbt, verhungert oder wird deportiert. Die junge Frau lässt sich nicht beirren. Sie klammert sich nicht wie so viele an die wenigen verbliebenen Wegbegleiter. Stattdessen befreit sie sich von den zwischenmenschlichen Beziehungen um sie herum und geht ihren ganz eigenen Weg.

Siemens Auf sich gestellt, beobachtet sie ihre Umwelt so aufmerksam, dass sie blitzschnell erkennt, wenn sich die kleinste Chance auf eine Freiheit versprechende Situation ergibt. Diese weiß sie zu nutzen. So teilt sie einem Postboten, der ihr die wiederholte Aufforderung zur Zwangsarbeit zustellen will, mit, dass Marie Jalowicz bereits deportiert worden sei. Der Zwangsarbeit bei Siemens entzieht sie sich und lehnt es ab, den diskriminierenden gelben Stern zu tragen.

Das mörderische System findet seine Grenze an einem eigenwilligen, durchsetzungsstarken Mädchen. Immer wieder wagt sie es, aufzubegehren, und rettet so ihr Leben. Trotz ihres unbeschreiblichen Muts verfällt Jalowicz Simon nicht in Selbstverherrlichung. Sie erzählt von den Menschen, die ihr auf ihrem einsamen Weg begegnen. Oft malt sie sich aus, was aus der einen oder anderen Freundin geworden wäre, wenn diese überlebt hätte. Jalowicz Simon kann untertauchen, weil es ihr gelingt, sich von der dem Tode geweihten jüdischen Bevölkerung, der sie angehört, zu distanzieren. Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung rettet die junge Frau.

Nach den Beiträgen der »Post-Schoa«-Forschung weiß man von der schwer zu ertragenden Überlebensschuld vieler Geretteter. Sich so deutlich wie Jalowicz Simon zum eigenen Überlebenstrieb zu bekennen, ist ein strahlender Sieg über die Destruktion, die die Naziverbrecher über die Juden gebracht haben und deren Folgen häufig noch bis heute spürbar sind. Marie Jalowicz Simons Stimme verdient Gehör.

Marie Jalowicz Simon: »Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945«, S. Fischer, Frankfurt/M. 2014, 416 S., 19,99 €

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