Nun darf ich einen Mann auf die Bühne bitten, der 500 Lieder in seinem Repertoire hat», sagt der Moderator. «Er könnte uns also ganz schön lange unterhalten. Begrüßt mit mir Mark Ross!» Dann macht der Moderator eine Geste, die den ganzen Ort des Geschehens zu umfassen scheint. Der ist in der Tat spektakulär.
In 3.000 Metern Höhe wurde eine Bühne aufgebaut, vor der Hunderte von Menschen auf Bänken und Strohballen sitzen. In einiger Entfernung ragen rund um den kleinen Bahnhof von Fir die Berggipfel des südlichen Colorado auf.
witze Mark Ross betritt die Bühne. Ein grauhaariger, etwa 60 Jahre alter Mann mit Brille und Seehundschnauzer. Auf dem Kopf trägt er einen Stoffhut, dazu ein blaues Hemd mit Weste, eine beige Arbeitshose und an den Füßen schwere, schwarze Stiefel. Etwas umständlich gruppiert er eine Gitarre, eine Fiedel, ein Banjo und eine Mundharmonika um seinen Stuhl. Dann schaut er prüfend ins Publikum. «Ganz schön viele Leute hier. Seid ihr alle mit einem Wagen gekommen?»
Das Gelächter der Zuschauer ist etwas dürftig. Obwohl Mark Ross nicht unrecht hat. Alle sind heute früh im Städtchen Alamosa aufgebrochen. Dort startet jeden Morgen die «Rio Grande Scenic Line», ein Zug mit großen Panoramafenstern, der von einer Dampflok gezogen den namensgebenden Fluss überquert und dann über Bergpässe bis nach La Veta schnauft.
thank you Jetzt warten die Leute auf Mark Ross. Und dem reißt beim ersten Ton eine Banjosaite. Er schüttelt den Kopf und beginnt eine Geschichte über einen Kollegen namens Utah Phillips zu erzählen, der vor einiger Zeit leider gestorben ist. Fünf Minuten berichtet Ross, mindestens. Die ersten Zuschauer beginnen zu murren. «Thank you, music lovers», ruft Ross und grinst. Er legt das Banjo auf den Boden und greift nach seiner Fiedel. Dann beginnt er zu spielen. Binnen zwei Minuten hat er die Zuhörer fest im Griff. Er spielt Traditionals, eigene Lieder, auch Kompositionen von Woody Guthrie und Utah Phillips, von dem er gerade erzählt hat. Lieder über Wanderarbeiter, Streikposten, Tramps, Außenseiter.
Als er einem Song über zwei Brüder beendet, die ihren Vater verloren, weil dem seine Freiheit wichtiger war als die Familie, haben einige Zuhörer feuchte Augen. «Das letzte Lied hatte übrigens mit mir und meinem Bruder nichts zu tun», stellt Ross klar und schultert seine Instrumente. «Allein schon deshalb, weil ich ein Einzelkind bin.» Sagt’s und beendet seinen Auftritt. Für den Rest des Nachmittags steht er im Schatten neben der Bühne und redet kaum ein Wort.
pass Zwei Stunden später sitzt der Sänger im Salonwagen des Panoramazugs, eine Art Backstagebereich, und ist etwas gesprächiger. Mark Ross wurde 1949 in New York geboren und heißt gar nicht Mark Ross. «Der Name im Pass tut nichts zur Sache.» Ross macht eine kleine Bewegung mit der rechten Hand, als wolle er seinen offiziellen Namen aus dem Zugfenster wischen.
Seine Großeltern waren Juden aus Odessa, die in die USA eingewandert sind. «Mein Opa wollte nicht zur russischen Armee. Lieber hat er seine Heimat verlassen.» Ross lächelt. «Ist übrigens schon immer einer der Hauptgründe gewesen, um in die USA einzuwandern. Man will nicht für seine Heimat in den Krieg ziehen.» Also ließen sich die Großeltern Anfang des 20. Jahrhunderts in New York nieder.
Kibbuz Die Mutter von Ross war orthodox, der Vater reformiert. Um den jüdischen Glauben im Sohn wachzuhalten, schickten sie ihn 1965 in einen Kibbuz nach Israel. «Ich war damals 16 Jahre alt und hätte alles getan, um von meinen Eltern wegzukommen», erinnert sich Ross. Außer sich an die Kibbuzregeln zu halten, muss er im Rückblick gestehen. Mit seiner Gitarre, ein paar Flaschen und ein paar Joints feierte er so ziemlich jede Nacht durch, und immer mehr Jugendliche taten es ihm gleich. «Nach kurzer Zeit hatte die Kibbuzleitung mich als denjenigen ausgemacht, der die Arbeitsproduktivität praktisch im Alleingang senkte.»
Der Aufenthalt des jungen New Yorkers sollte eigentlich neun Monate dauern. Nach drei Wochen schmissen seine Gastgeber ihn raus. In die USA zurückgekehrt, lebte er mit seiner Familie in permanentem Streit. «Mit 17 bin ich dann zum zweiten Mal gegangen. Aus gesundheitlichen Gründen. Ich habe meine Eltern krank gemacht.»
folkie Bewaffnet mit einer Gitarre und seiner lauten Stimme kam er in Greenwich Village unter, mitten auf dem Höhepunkt der Folksängerbewegung in den späten 60er-Jahren. Während dieser Zeit lernte er, etwa ein Dutzend Instrumente zu beherrschen, darunter auch weniger gängige wie die 12-Saiten-Gitarre, die Hawaiianische Gitarre und die «Jew’s harp», wie die Maultrommel auch heißt.
Vor allem aber entdeckte Ross für sich das Geschäft, mit dem er bis heute sein Geld verdient. Er ging auf die Bühne, sang eigene Lieder und Fremdkompositionen, jodelte und machte – nach eigener Einschätzung – schlechte Witze. Vor allem aber begann er irgendwann, sich «America’s most famous unknown Folksinger» zu nennen. Eine Selbsteinschätzung, die bis zum heutigen Tag auf seiner Visitenkarte zu lesen ist.
Funktionär 1970, kurz vor seinem 21. Geburtstag, heiratete Ross. Zusammen mit seiner Frau trampte er durch Kalifornien. «Wir waren einfach noch zu jung und wussten nicht, was wir wollten», erinnert er sich. Schon nach einem Jahr wurde die Ehe geschieden. Das nahm er zum Anlass, das geregelte Leben zunächst hinter sich zu lassen.
Neun Jahre lang wurde aus Ross ein Hobo, ein Wanderarbeiter, der mit dem Zug der Arbeit nachfährt. Auf diesen Reisen kam er in Kontakt mit IWW, den «Industrial Workers Worldwide», einer Gewerkschaft, die 1905 in Chicago gegründet wurde. Sie war die erste ihrer Art, die auch Frauen, Wanderarbeiter, Asiaten und Schwarze aufnahm. Binnen Kurzem wurde Ross Funktionär dieser Organisation, die zwischenzeitlich nicht mehr als eine Splittergruppe war.
Die politische Arbeit brachte es mit sich, dass Ross wieder sesshaft wurde. Zunächst für 23 Jahre in Montana, später in Oregon. Außerdem entdeckte ihn die Folkmusik-Szene wieder. Bis heute arbeitet Ross von Zeit zu Zeit als Radiomoderator. «Aber davon kannst du nicht leben. Also habe ich eine Zeitlang Kinder missbraucht.»
Er lässt diese schockierende Aussage einen Moment stehen, bis er lacht. «Oder wie wollt ihr das nennen, wenn ein jüdischer, anarchistischer Gewerkschafter als Aushilfslehrer an einer katholischen Highschool arbeitet?» Seit einigen Jahren «missbraucht» Mark Ross übrigens keine Kinder mehr. Lieber unterrichtet er sechs Instrumente. Oft spielt er in Schulen und Kindergärten. Oder er gibt Konzerte wie hier in den Bergen von Colorado.
gepäck Die Lok beginnt zu zischen. Der Zug wird langsamer, und die ersten Häuser am Stadtrand von Alamosa ziehen vorbei. Ross holt die sperrigen Koffer mit seinen Instrumenten aus dem Gepäckfach. Der Zug hält. Die Reisenden drängeln nach draußen. Auch Ross macht sich auf den Weg, verstaut das Gepäck im Kofferraum seines Wagens und steigt ein.
«So, erledigt», sagt er. «Und wo ich schon mal sitze, fahre ich nach Hause.» Ross winkt mit seinem Hut durchs offene Autofenster und gibt Gas. Wie lange es ihn zu Hause wohl halten wird, bevor er zu seiner nächsten Wanderschaft aufbricht? Vielleicht weiß Ross das selbst nicht so genau.
Kibbuz Die Mutter von Ross war orthodox, der Vater reformiert. Um den jüdischen Glauben im Sohn wachzuhalten, schickten sie ihn 1965 in einen Kibbuz nach Israel. «Ich war damals 16 Jahre alt und hätte alles getan, um von meinen Eltern wegzukommen», erinnert sich Ross. Außer sich an die Kibbuzregeln zu halten, muss er im Rückblick gestehen. Mit seiner Gitarre, ein paar Flaschen und ein paar Joints feierte er so ziemlich jede Nacht durch, und immer mehr Jugendliche taten es ihm gleich. «Nach kurzer Zeit hatte die Kibbuzleitung mich als denjenigen ausgemacht, der die Arbeitsproduktivität praktisch im Alleingang senkte.»
Der Aufenthalt des jungen New Yorkers sollte eigentlich neun Monate dauern. Nach drei Wochen schmissen seine Gastgeber ihn raus. In die USA zurückgekehrt, lebte er mit seiner Familie in permanentem Streit. «Mit 17 bin ich dann zum zweiten Mal gegangen. Aus gesundheitlichen Gründen. Ich habe meine Eltern krank gemacht.»
folkie Bewaffnet mit einer Gitarre und seiner lauten Stimme kam er in Greenwich Village unter, mitten auf dem Höhepunkt der Folksängerbewegung in den späten 60er-Jahren. Während dieser Zeit lernte er, etwa ein Dutzend Instrumente zu beherrschen, darunter auch weniger gängige wie die 12-Saiten-Gitarre, die Hawaiianische Gitarre und die «Jew’s harp», wie die Maultrommel auch heißt.
Vor allem aber entdeckte Ross für sich das Geschäft, mit dem er bis heute sein Geld verdient. Er ging auf die Bühne, sang eigene Lieder und Fremdkompositionen, jodelte und machte – nach eigener Einschätzung – schlechte Witze. Vor allem aber begann er irgendwann, sich «America’s most famous unknown Folksinger» zu nennen. Eine Selbsteinschätzung, die bis zum heutigen Tag auf seiner Visitenkarte zu lesen ist.
Funktionär 1970, kurz vor seinem 21. Geburtstag, heiratete Ross. Zusammen mit seiner Frau trampte er durch Kalifornien. «Wir waren einfach noch zu jung und wussten nicht, was wir wollten», erinnert er sich. Schon nach einem Jahr wurde die Ehe geschieden. Das nahm er zum Anlass, das geregelte Leben zunächst hinter sich zu lassen.
Neun Jahre lang wurde aus Ross ein Hobo, ein Wanderarbeiter, der mit dem Zug der Arbeit nachfährt. Auf diesen Reisen kam er in Kontakt mit IWW, den «Industrial Workers Worldwide», einer Gewerkschaft, die 1905 in Chicago gegründet wurde. Sie war die erste ihrer Art, die auch Frauen, Wanderarbeiter, Asiaten und Schwarze aufnahm. Binnen Kurzem wurde Ross Funktionär dieser Organisation, die zwischenzeitlich nicht mehr als eine Splittergruppe war.
Die politische Arbeit brachte es mit sich, dass Ross wieder sesshaft wurde. Zunächst für 23 Jahre in Montana, später in Oregon. Außerdem entdeckte ihn die Folkmusik-Szene wieder. Bis heute arbeitet Ross von Zeit zu Zeit als Radiomoderator. «Aber davon kannst du nicht leben. Also habe ich eine Zeitlang Kinder missbraucht.»
Er lässt diese schockierende Aussage einen Moment stehen, bis er lacht. «Oder wie wollt ihr das nennen, wenn ein jüdischer, anarchistischer Gewerkschafter als Aushilfslehrer an einer katholischen Highschool arbeitet?» Seit einigen Jahren «missbraucht» Mark Ross übrigens keine Kinder mehr. Lieber unterrichtet er sechs Instrumente. Oft spielt er in Schulen und Kindergärten. Oder er gibt Konzerte wie hier in den Bergen von Colorado.
Gepäck Die Lok beginnt zu zischen. Der Zug wird langsamer, und die ersten Häuser am Stadtrand von Alamosa ziehen vorbei. Ross holt die sperrigen Koffer mit seinen Instrumenten aus dem Gepäckfach. Der Zug hält. Die Reisenden drängeln nach draußen. Auch Ross macht sich auf den Weg, verstaut das Gepäck im Kofferraum seines Wagens und steigt ein.
«So, erledigt», sagt er. «Und wo ich schon mal sitze, fahre ich nach Hause.» Ross winkt mit seinem Hut durchs offene Autofenster und gibt Gas. Wie lange es ihn zu Hause wohl halten wird, bevor er zu seiner nächsten Wanderschaft aufbricht? Vielleicht weiß Ross das selbst nicht so genau.