Mieczysław Weinbergs (1919–1996) Die Passagierin gehört zu den zentralen Opern der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Und das, obwohl das 1968 vollendete Werk – es handelt nicht nur von den Grauen in Auschwitz, sondern spielt sogar dort – erst 2010 in Bregenz uraufgeführt wurde.
Auch die Uraufführung seiner letzten Oper Der Idiot (1986) nach Fjodor Dostojewskis gleichnamigem Roman gab es erst 2013 in Mannheim. Jedes Mal staunte die Opernwelt über etwas, worüber sie eigentlich hätte schockiert sein müssen: Wieso eigentlich so spät? Und das bei einer Komponisten-Biografie im Hintergrund, die selbst roman- oder operntauglich ist.
nazis Der in Warschau geborene Weinberg flüchtete mit 20 Jahren vor den Nazis in die Sowjetunion. Dort landete er in Stalins Gulag. Dem Schlimmsten entging er nur durch die Fürsprache seines selbst nie ungefährdeten Lehrers und Freundes Dmitri Schostakowitsch, vor allem aber durch Stalins Tod 1953. Er (über-)lebte und blieb in Moskau.
Dass er zeitlebens in der Sowjetunion blieb, erklärt seine bescheidene Schattenexistenz als Komponist nur zum Teil. Obwohl der Eiserne Vorhang nie schalldicht war, herrschte auf dessen westlicher Seite eine radikale, dogmatische Neutönerei.
Da hatte es Musik, die aus dem Osten kam, besonders schwer. Sie knüpfte nahezu bruchlos an die spezifisch russische Weiterführung einer spätromantischen Musiktradition an und verzichtete weder auf das große Orchester noch auf das Tonale oder vokale Bögen.
verdienst Dem Theater an der Wien kommt jetzt nicht nur das Verdienst einer österreichischen Erstaufführung von Weinbergs Idiot zu. Am Pult des ORF-Radio-Symphonieorchesters Wien sorgte der 1942 in Nowosibirsk geborene und ebenfalls einst mit Dmitri Schostakowitsch befreundete Dirigent Thomas Sanderling für einen Orchesterklang, der mit all seiner dräuenden Düsternis, auftrumpfenden Dramatik und repetierenden Eloquenz in den Parlandopassagen schlichtweg atemberaubend war.
Dass Weinberg zeitlebens in der Sowjetunion blieb, erklärt seine bescheidene Schattenexistenz als Komponist nur zum Teil.
Unter den erstklassigen Protagonisten imponierten besonders Tenor Dmitry Golovnin als Titelheld mit seiner mühelosen Strahlkraft, ebenso wie die Vitalität von Dmitry Cheblykov als Kaufmann Rogoschin. Mit lodernder Leidenschaft warten Ekaterina Sannikova als Nastassja und Ieva Prudnikovaite als Aglaja auf. Es ist durchweg ein Fest der Stimmen und der Musik – trotz aller akustischen Einschränkungen der Ausweichspielstätte des Theaters an der Wien im Museumsquartier.
Der Russe Vasily Barkhatov hat sich mit einer Handvoll bemerkenswerter Inszenierungen im deutschsprachigen Raum längst etabliert. Zusammen mit Christian Schmidt (Bühne), Stefanie Seitz (Kostüme) und Christian Borchers (Video) findet er einen kongenialen szenischen Zugang.
atmosphäre Er bedient sowohl die russische Atmosphäre als auch die Vielschichtigkeit eines Psychothrillers, der über die klassische Konstellation »ein Mann zwischen zwei Frauen« weit hinausgeht. Hier sehen wir Menschen beim Scheitern zu. Hier ist nicht nur Fürst Myschkin im Hinblick auf ein »richtiges« Leben gleichsam auf der Durchreise. Hier kommt keiner wirklich dort an.
Im Zentrum auf der Drehbühne ist ein aufgeschnittener Eisenbahnwaggon platziert. An der Fensterfront zieht (im Video) unablässig eine verschneite Winterlandschaft vorbei. Ein einschwebender Lüster, eine Tafel, ein Sofa oder eine Kollektion von Betten vor dem Waggon genügen, um die übrigen Schauplätze zu markieren. Einmal finden sich sogar alle Versatzstücke zusammengedrängt in dem Waggon, dann wieder ist er völlig leer. Die transitorische Reisemetaphorik erweist sich als so bühnenpraktisch wie ergiebig.
Im Waggon begegnen sich der von der Kur in der Schweiz heimkehrende Fürst Myschkin und Rogoschin – der schönen Nastassia verfallen – das erste Mal rein zufällig. Und dann immer wieder. Keineswegs zufällig.
Das Eisenbahn-Abteil, in dem sich die Männer immer wieder treffen, ist zugleich ihr jeweiliger Rückzugsort. So wie sie hier immer wieder darauf zurückkommen, sind die beiden auf eine untergründige Weise zwar nicht Brüder, wie sie im Laufe ihrer Begegnung behaupten, aber doch ein komplementäres Gegenstück oder Spiegelbild des jeweils anderen.
draufgänger Einerseits der übersensible Myschkin, der auf die Anfechtungen der Welt mit Verzeihen, Güte und dem Willen zu helfen reagiert. Andererseits der kraftstrotzende, vitale Draufgänger, der seinen Willen durchzusetzen gewohnt ist, sich aber gleichzeitig immer wieder selbst mit dem Messer ritzt oder seine Hand über die offene Flamme hält.
Diese beiden verbindet (oder trennt) unbewusst womöglich mehr als ihre schwankende Obsession für Nastassia, die Rogoschin am Ende umbringt. In Wien gab es einhelligen Beifall für eine großartige Kunstanstrengung, die hoffentlich Folgen hat.