Film

Auf den Spuren einer Lüge

»Ich habe nicht gewusst, wo ich das unterbringen kann, in welche Kulisse«: Bruno Dössekker Foto: Der Filmverleih

»Außergewöhnlich. Er schreibt mit der Vision eines Dichters, der Unschuld eines Kindes«, urteilte die »New York Times«. Die Begeisterung des Feuilletons im Ausland und in Deutschland galt der Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Der Schweizer Binjamin Wilkomirski beschrieb Erinnerungen an seine Kindheit und Misshandlungen in den NS-Vernichtungslagern Majdanek und Auschwitz.

Das Buch, erschienen 1995 im Jüdischen Verlag von Suhrkamp, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Drei Jahre später entlarvte der Schweizer Journalist Daniel Ganzfried, Sohn eines Schoa-Überlebenden, das Werk als Fälschung. Wilkomirski, geboren als uneheliches Kind der Schweizerin Yvonne Grosjean, sei von dem wohlhabenden Zürcher Ehepaar Dössekker adoptiert worden – in Auschwitz oder Majdanek sei er niemals gewesen. Suhrkamp musste das Buch zurückziehen.

literaturskandal Mehr als 20 Jahre nach diesem Literaturskandal kommt an diesem Donnerstag die Schweizer Dokumentation W. – Was von der Lüge bleibt in deutsche Kinos. Darin stellt sich Bruno Dössekker alias Wilkomirski kritischen Fragen über die Entstehungsgeschichte von Bruchstücke. Es ist ein vielschichtiger und differenzierter Film, der in fünf Etappen versucht, die Geschichte von allen Seiten zu beleuchten.

Dössekker wird als kleiner Junge wohl von einer Pflegemutter schwer misshandelt. Von den Adoptiveltern erfährt er nichts über seine Herkunft. Als Zehnjähriger freundet er sich mit jüdischen Mitschülerinnen an, später wird sein jüdischer Physiklehrer ein Vorbild. Obwohl Dössekker Erfolg als Klarinettist und Instrumentenbauer hat und eine Familie gründet, plagen ihn Albträume.

Bis heute besteht Bruno Dössekker darauf, er sei Jude. In seinem Haus im Thurgau hängt ein Davidstern am Fenster, er zündet Chanukkakerzen und spricht die Bracha.

Die Suche nach »wahrer Identität« wird zu einer Sucht. Er reist nach Riga und bildet sich ein, dort geboren zu sein; er reist nach Majdanek und Birkenau und ignoriert Einwände einer Historikerin und eines Zeitzeugen.

THERAPEUTEN Eine unrühmliche Rolle spielen die Psychotherapeuten Monika Matta und Elitsur Bernstein, die Dössekkers Erinnerungen für authentisch halten. Sie ermutigen den Verlag zur Veröffentlichung. Als »child survivor« findet Bruno in Israel eine Ersatzfamilie. Sogar das israelische Fernsehen sucht nach seinen angeblich ermordeten Verwandten.

Regisseur Rolando Colla lässt sich auf Dössekkers Version der Geschichte ein – er gibt dem Schrecken einer Kindheit Raum in bedrohlichen Schwarz-Weiß-Animatio­nen von Thomas Ott. Er lässt aber auch Schoa-Überlebende zu Wort kommen, die sich getäuscht und ausgenutzt fühlen.

Bis heute besteht Dössekker darauf, er sei Jude. In seinem Haus im Thurgau hängt ein Davidstern am Fenster, er zündet Chanukkakerzen und spricht die Bracha. Doch weder entschuldigt er sich für seine Lügen noch übernimmt er Verantwortung. Ein misshandeltes Kind sei ein misshandeltes Kind – ob in Majdanek oder anderswo.

Er selbst, sagt Bruno Dössekker, hätte bei Suhrkamp lieber einen Roman veröffentlicht, doch der Verlagsleiter habe eben eine Autobiografie gewollt. Und gegen Professor Siegfried Unseld sei er doch nur ein »kleines Würstchen« gewesen.

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