Auf einem Tisch im Lesesaal hat Rachel Heuberger ihre Schätze ausgebreitet. Wertvolle Bände mit Goldschrift, Romane auf Englisch und Französisch, Kupferstiche und säuberlich gebundene Pressemappen. Vor allem die Sammlung alter Zeitungsartikel hat es in sich. »Die sind als historische Ressource und in dieser Zusammensetzung ein absolutes Unikat«, sagt Heuberger, Leiterin der Hebraica- und Judaica-Sammlung der Bibliothek der Frankfurter Goethe-Universität. 31 Bände gibt es davon. Enthalten sind Berichte der New York Times, des Daily Telegraph oder des Wiener Abendblattes – 20.000 Artikel von 1886 bis 1916 aus nationalen und internationalen Gazetten, die sich alle mit der Familie Rothschild befassen.
Exponate einer auch sonst einzigartigen Sammlung: der Rothschild’schen Bibliothek. Sie war die erste öffentliche Bücherei Frankfurts und eine der modernsten Europas. Auf ihrem Bestand fußt heute auch die Universitätsbibliothek Frankfurt. Vor 125 Jahren öffnete sie in der Bethmannstraße 1 ihre Türen für jedermann – damals ein absolutes Novum.
Britisches Vorbild Freifräulein Hannah Louise von Rothschild hatte die Bücherei 1888 zu Ehren ihres zwei Jahre zuvor verstorbenen Vaters Mayer Carl von Rothschild, eines der einflussreichsten Bankiers in Deutschland, gegründet. Die Historikerin Heuberger verwaltet die Bibliothek. Zum 125. Jahrestag hat sie auf der Website der Unibibliothek viele Exponate sichtbar gemacht, die sonst im Magazin schlummern. 130.000 Bände umfasst die Stifter-Bibliothek.
Sie dürfen sonst nur in den Lesesälen eingesehen werden. Einen Teil der Bestände, vor allem auch die Presseschau, hat Heuberger digitalisieren lassen. Per Mausklick und dank eines automatischen Texterkennungssystems können Interessierte durch eine Sammlung surfen, deren Vielfalt Heuberger als »enorm wertvoll für die Forschung« bezeichnet.
Den Grundstock der »Freiherrlichen Carl von Rothschild’schen Bibliothek« bildeten die eigenen Buchsammlungen von Hannah Louise und ihrem Vater – immerhin 3000 Bände. »Die Bibliothek sollte Wissenschaft und Volksbildung vereinen«, sagt die Historikerin, die auch im Vorstand der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen sitzt. Alle Bevölkerungsschichten sollten kostenlos Zugang zu Wissenschaft und Literatur erhalten. Vorbild war die Free Public Library in England. Hannah Louise hatte durch die Verwandten ihrer Mutter und eine anglophile Erziehung enge Kontakte nach Großbritannien.
Ansturm Das Haus in der Bethmannstraße war herrschaftlich. Es gab sechs Lesesäle mit 67 Arbeitsplätzen und Personal, das den Besuchern zur Seite stand. Hannah Louise und der eigens eingestellte Bibliothekar Christian Wilhelm Berghoeffer kümmerten sich um den Aufbau des Bestands. Die Öffnungszeiten waren fortschrittlich. An sechs Tagen in der Woche hatte die Bibliothek bis 20 Uhr geöffnet, damit Werktätige kommen konnten. Sogar sonntagvormittags war sie zugänglich.
Die Frankfurter und Menschen aus dem Umland kamen in Scharen. 1894 gab es durchschnittlich 93 Besucher am Tag, 3519 Personen registrierte die Bibliothek im Jahr 1900. Handwerker und Kaufleute stellten eine große Gruppe, und es kamen auch auffallend viele Frauen. 1913 konnten sie unter 75.000 Büchern wählen. In der »Volksbibliothek« standen belletristische und wissenschaftliche Werke, zeitgenössische Literatur, englische und französischsprachige Schulbücher, Werke der Handelswissenschaften, aber auch bis dahin vernachlässigte Disziplinen wie Kunst-, Theater- und Musikwissenschaft. Gegen eine Gebühr konnte man sich die Bücher sogar nach Hause bringen lassen. »Alles war äußerst professionell«, so Heuberger.
Modern 1892 starb die Gönnerin Hannah Louise mit nur 41 Jahren. Ihre Mutter und später auch die im Ausland lebenden Schwestern führten das Projekt durch die Einrichtung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung (mit einem Kapital von über einer Million Mark) fort und erweiterten die Bücherei sogar. 1895 zog die Bibliothek ins frühere Wohnhaus der Rothschilds am Untermainkai, in dem heute das Jüdische Museum untergebracht ist. Im neuen Domizil gab es als einem der ersten Gebäude Frankfurts elektrisches Licht, einen Lastenaufzug und eine Heizung. »Es war der modernste Bibliotheksbau«, erklärt Heuberger.
Rezession und Inflation gingen jedoch auch an den Rothschilds nicht spurlos vorbei. 1928 verlor die Bibliothek nach der Entwertung des Familienvermögens ihre Selbstständigkeit und ging in der Stadtbücherei auf. 1933 übernahm die Leitung Joachim Kirchner, ein erklärter Nationalsozialist. Er setzte laut Heuberger alles daran, den Namen Rothschild zu tilgen. Was ihm auch gelang. 1935 verschwand der Zusatz »Freiherr Carl von Rothschild’sche Bibliothek«. Es blieb nur »Bibliothek für neue Sprachen und Musik« übrig. Alle Hinweise auf die Stifterfamilie wurden ausradiert.
Den Krieg überlebte die Sammlung ausgelagert in Oberfranken. Nach 1945 kehrte sie in die Obhut von Stadt und Universität zurück. »Wissenschaftlich wirkt sie bis heute nach«, sagt Heuberger.
http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/rothschild
www.ub.uni-frankfurt.de/Judaica/vgv_01html