Die gute Nachricht gleich vorweg: Otto Kadoke hat das Rauchen aufgegeben. Das erfreut, hat der passionierte Nervenarzt und Nikotineur sein Laster in Arnon Grünbergs Roman Muttermale (2016) doch noch so begründet: »Wenn man nicht raucht, hält man es als Psychiater nicht aus.«
Diese Rechtfertigung birgt jedoch zugleich die schlechte Nachricht, denn in Grünbergs soeben erschienenem Folgeroman Besetzte Gebiete erweist sich die Tabakabstinenz dem Amsterdamer Fachmann für Seelenleiden als nicht allzu bekömmlich.
Psychiater Als auf Suizidprävention spezialisierter Notfallpsychiater beim mobilen Krisendienst der niederländischen Hauptstadt hat Kadoke – mit Betonung auf der dritten und nicht auf der zweiten Silbe, »aber wenn Leute den Namen falsch aussprechen, korrigiert er sie nicht« – schon so manches Leid aus dem Spektrum menschlichen Elends zu Augen und Ohren bekommen. Ein erfahrener und besonnener Psychiater ist er, ein Mann von Contenance und mit einer Vorliebe für Spinoza (ausgerechnet Spinoza, diesen Amsterdamer Paria!).
Mit seiner in Muttermale etablierten »alternativen Therapie«, die er der jungen, nach unzähligen Langzeit-Klinikaufenthalten als austherapiert geltenden Borderline-Patientin Michette angedeihen lässt, hat sich Kadoke allerdings verhoben, und zwar gehörig.
Aus lauter Ernüchterung über den maroden Zustand des niederländischen psychiatrischen Gesundheitssystems hatte Kadoke Michette in sein kurzerhand zur »Privatklinik« umfunktioniertes Elternhaus aufgenommen, wo er die Hoffnung hegte, die emotional instabile und chronisch suizidale Patientin durch Arbeitstherapie in Form der Pflege seiner alternden Mutter von ihrer morbiden Leidenschaft für scharfe Messer und Chlorreiniger zu heilen. Doch Kadokes gegen jedes ärztliche Ethos verstoßender Plan ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Als Michette schon in der Ouvertüre von Besetzte Gebiete dekompensiert, ihre Behandlung abbricht und sich einem Schriftsteller an den Hals wirft, der seinerseits Kadoke eine Existenz als »durchgedrehter Psychiater« andichtet und seine »alternative Therapie« romanhaft zu einem Missbrauchsepos verarbeitet, entlädt sich ein hysterisch aufgeladener öffentlicher Proteststurm über Kadoke, sieht er sich in einen MeToo-Skandal allererster Güte bugsiert.
»Auch du, Kadoke?«, will man brüskiert ausrufen. »Es sind andere Zeiten heute, mit neuen Besen, die kehren unerbittlich«, belehrt ihn eine Kollegin. Und tatsächlich erweist sich das Kehren, erweist sich die antisemitische Schmutzkampagne, der sich Kadoke ausgesetzt sieht, als unerbittlich: Von Presse und Fernsehen gegrillt, wird der Psychiater auf der Straße und in den sogenannten Sozialen Medien als unersättlicher jüdischer Mädchenschänder diffamiert. Er, der für sein eigenes Judentum so wenig übrighat, wird plötzlich zum Juden gemacht, zum Paria im Heimatland. Kadoke fällt tief, er verliert seine wenigen Freunde, seinen guten Ruf, seine ärztliche Approbation.
Der Psychiater, der für sein Judentum nichts übrighat, wird plötzlich zum Juden gemacht.
Dann steht eines Tages plötzlich Anat vor Kadokes Tür. Er, assimilierter Jude, Agnostiker, Antizionist, trifft auf sie, orthodoxe Jüdin, glühende Zionistin, fanatische Siedlerin – und, als wäre das nicht genug, seine Ururgroßcousine. Kadoke verliebt sich in Anat. Als er Amsterdam kurze Zeit später »geteert und gefedert« verlassen muss, folgt er der entfernten Cousine gemeinsam mit seinem nicht sterben wollenden Vater in ihre im Westjordanland gelegene Siedlung. Dort willigt Anat nach anfänglicher Reserviertheit schließlich unter der Bedingung, zahlreiche Nachkommen zu zeugen und somit den Fortbestand des jüdischen Volkes zu sichern, in Kadokes Heiratsabsichten ein.
EMIGRATION Deplatziert wirkt der säkular-kultivierte Psychiater im Jischuw, rasch wird seine äußere zur inneren Emigration, er selbst zum Paria unter Parias. In seiner neuen Heimat und unter dem Eindruck eines veritablen Kulturschocks stellt Kadoke fest: »Das Getto steckt den Leuten noch tief in den Knochen, religiöse Siedlung hin oder her: Das Getto ist im Grunde nichts anderes als die Angst, Anstoß zu erregen. Das innere Getto besteht aus der Überzeugung, selbst klein zu sein, dass andere dich klein halten wollen und du darum am besten auch klein bleiben solltest, um Schläge zu vermeiden. Doch auch kleine Menschen brauchen jemanden, auf den sie hinunterschauen können.«
Zu diesen kleinen Menschen zählt auch Anats Mutter, eine Frau mit skurriler Passion für Gänsefett, Donald Trump und einen komatösen Rabbiner, die in allem Antisemitismus und in jedem einen Judenhasser wittert, was sie aber nicht davon abhält, Kadoke bisweilen in göringesker Manier und holprigem Englisch anzubellen, etwa so: »Wer ist impotenter Jude, bestimme ich!« Dem armen Kadoke bleibt auch nichts erspart. Er ist und bleibt »ein Mensch, der sich selbst Gruben gräbt bei dem Versuch, andere Probleme zu umgehen«, und sich dabei in immer abstrusere Situationen manövriert.
MORALISMUS In Besetzte Gebiete geht es um sowjetische Zinksalbe aus der Breschnew-Ära und die Angst vor der Stille, um Vulgärmessianismus, SS-Schirmmützen und vegane Kekse, um Vergangenheit und Zukunft und die Frage, wann das 19. Jahrhundert endlich vorbei sein darf. Es ist ein Roman über Identität und Ideologie, über Familienbande und Grenzüberschreitungen – und über die großen Moden unserer Zeit: Empörung. Gekränktsein. Moralismus.
In den Niederlanden von Kritikern wie Lesern gleichermaßen gefeiert, stellt Arnon Grünberg mit Besetzte Gebiete, seinem fünfzehnten, eindrücklich recherchierten Roman aufs Neue seine Erzählkunst unter Beweis und spart dabei nicht an unerwarteten Wendungen.
Nicht umsonst gilt Grünberg, der im Februar seinen 50. Geburtstag begangen hat, als Stern am niederländischen Literaturhimmel. Wie so oft entlässt der Autor seinen Leser auch nach vollendeter Lektüre von Besetzte Gebiete verstört, amüsiert, ratlos, konsterniert. Dem gebeutelten Antihelden Otto Kadoke wünscht man indes nur eins: Liberté toujours.
Arnon Grünberg: »Besetzte Gebiete«. Übersetzt von Rainer Kersten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 432 S., 24 €.
Am 29. Juni wird Arnon Grünberg in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt seinen neuen Roman vorstellen. Informationen zur Lesung samt Gespräch gibt es hier.